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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes
Autoren: Karin Jäckel
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ständiges Schreien nicht zugemutet werden sollte.
    Vom Säuglingsalter an hatte ich Verdauungsstörungen und stark juckende Neurodermitis, so dass ich mich blutig kratzte und die ganze Familie ständig auf Trab hielt. So konnte ich beispielsweise immer nur in kleinsten Portionen gestillt werden, bis meine Mutter es nicht mehr ertrug, ständig verfügbar sein zu müssen, und auf eine bestimmte medizinische Flaschennahrung umstellte. Ohne Bauchmassagen und intensive Körperpflege verschlechterte sich der Zustand, und ich musste ständig getragen, gewiegt und beobachtet werden. Immer war ich in Gefahr, den so genannten »Sekundentod« zu erleiden, weil ich vielleicht zu atmen vergessen würde und plötzlich tot in meinem Bettchen läge.
    Statt die für mich hergerichtete Wiege im elterlichen Schlafzimmer zu beziehen, wurde ich zwei Stockwerke über der elterlichen Wohnung in einem Dachstübchen einquartiert. Von dort aus drang mein Bauchweh-Geschrei nicht bis zu meiner Mutter vor, die dringend Ruhe brauchte. Ich bin sicher, dass ich damals schon dieses Verlassenheitsgefühl entwickelte, das bis heute der Grund für all meine zwischenmenschlichen Fehlentscheidungen und gescheiterten Beziehungen ist.

    Meine Mutter war bei meiner Geburt mit dreiundvierzig Jahren keine junge Mutter mehr. Vielleicht verlief deshalb die Entbindung so langwierig und schwer. Möglicherweise war das der Grund, weshalb ihr die Gebärmutter entfernt werden musste, so dass sie keine weiteren Kinder bekommen konnte. Nicht auszuschließen ist, dass sie mir insgeheim wegen dieses medizinischen Eingriffs, der sie sehr belastete, die Schuld gab und mich deshalb als Baby nicht annehmen konnte.
    Ich glaube aber, dass meine Mutter vor allem Angst hatte, irgendetwas falsch zu machen. Immer musste alles perfekt sein. Jede Haarlocke musste ordentlich sitzen, jeder Fingernagel musste genau gefeilt und pikobello sauber sein, jedes Stäubchen im Haus entfernt werden. Ein Baby, besonders ein nicht ganz pflegeleichtes, das nicht in diese immer hübsch adrette, superordentliche Welt meiner Mutter passte, sondern rätselhaft oft schrie und Bauchschmerzen hatte, ohne dass sie genau wusste, warum und wie sie dies ändern konnte, so ein Baby muss meine Mutter in Angst und Schrecken versetzt haben.
    Kein Wunder also, dass mein Vater sie vor mir oder meinen Bedürfnissen zu beschützen versuchte und dafür sorgte, dass meine ledige Tante sich meiner annahm.
    Deutlich älter als meine Eltern, erzkonservativ und streng katholisch, gab sie ihre eigene Wohnung in einem Nachbarort auf, bezog ein weiteres Dachstübchen neben meinem Kinderzimmer und nahm sich alsbald meiner Erziehung an. Diese basierte unter anderem auf dem Leitsatz, dass Babygeschrei für eine starke Lunge sorge. Folglich wurde ich fast nur zu den Mahlzeiten und zur Körperhygiene in den Arm genommen und ansonsten mir selbst überlassen.
    Da meine Eltern sich vor allem dann, wenn ich gar zu herzzerreißend brüllte, in die eng gefassten Richtlinien dieser Erziehung einmischten, hatte ich den Effekt des Protestverhaltens bald erfasst und spielte mit zunehmendem Alter beide Seiten geschickt gegeneinander aus.
    Wie es heißt, rebellierte ich schon vor dem Laufenlernen so lautstark und trotzig gegen alles, was mir missfiel, dass die ganze Familie erneut dazu überging, mich möglichst in Ruhe und mir selbst zu überlassen. So hatte ich früh den Ruf weg, besonders widerspenstig, trotzig und trotz aller Liebesmüh’ »irgendwie nicht ganz richtig« zu sein.
    »Die Cora muss man ganz gehen lassen!«, wurde zum geflügelten Wort.

    Trotzdem liebte ich meine Eltern und meine Tante über alles. Gern wäre ich des Nachts wohl auch ins elterliche Schlafzimmer geschlichen, doch da meine Mutter ihre Ruhe brauchte, krabbelte ich nur zu meiner Tante und schlüpfte unter ihre Decke. Eng an die weiche Altfrauenbrust ihrer etwas zu fülligen Figur gekuschelt, fand ich die liebevolle Wärme bei ihr, die ich dank meiner Wildheit und Eigensinnigkeit tagsüber so oft vermisste.
    Ich hatte früh begriffen, dass meine Erziehungsberechtigten nicht mit einer Stimme sprachen und sich auf der Erwachsenenebene nicht darauf verständigen konnten, wer im Zweifel das letzte Wort haben sollte. Geschickt spielte ich alle gegeneinander aus und setzte meinen Willen notfalls mit Gebrüll und Füßestampfen durch. Doch obwohl ich nie groß gemahnt oder gescholten wurde, war ich nicht glücklich. Irgendwie fühlte ich mich wie ein aus dem Nest
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