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Enwor 1 - Der wandernde Wald

Enwor 1 - Der wandernde Wald

Titel: Enwor 1 - Der wandernde Wald
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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klang monoton und flach, als spräche er in Trance. »Die alten Legenden sind unwahr. Sie sind unwahr, wie die Geschichte von Urc und seiner blühenden Zivilisation unwahr ist.«
    »Aber warum?« wimmerte Bernec.
    »Weil wir die Angreifer waren«, antwortete Seshar. »Urcöun ist die Heimat eines uralten Volkes, das vor Millionen von Jahren von den Sternen kam und sich hier ansiedelte. Sie waren mächtig, mächtig und reich, und ich glaube nicht einmal, daß sie wirklich böse waren. Sie waren nur fremd. So fremd, daß eine Verständigung zwischen ihnen und den Menschen unmöglich schien und sie sich schließlich hier am Ende der Welt verbargen. Aber ihr Reichtum und ihre Macht lockten Neider an. In diesem Punkt sind die Legenden wahr, Bernec. Das Volk von Urc lebte lange und unbehelligt, und es war reich und glücklich und zufrieden, soweit ein Volk in einer Welt, die nicht die seine ist, glücklich sein kann. Bis eines Tages eine Flotte von Schiffen vor seiner Küste erschien, Schiffe, die mit Tausenden und Abertausenden von Kriegern besetzt waren. Sie verwüsteten und zerstörten das Land, töteten seine Bewohner und plünderten seine Schätze. Nur diese Festung hielt ihrem Ansturm stand. Sie belagerten sie, und als sich die Vorräte in ihrem Inneren dem Ende zuneigten und seine Bewohner immer verzweifelter wurden, wagten sie einen letzten selbstmörderischen Ausfall. Die Angreifer wurden in einer blutigen Schlacht geschlagen und tief in die Wüste zurückgetrieben.
    Es waren unsere Vorfahren, Bernec.«
    Coar begann leise und tonlos zu weinen. Ihre Hände griffen in einer verzweifelten, haltsuchenden Bewegung in die Luft und sanken dann kraftlos herab. Sie schluchzte, sank gegen die Wand und brach langsam in die Knie.
    »Das stolze Volk von Urc hat es niemals gegeben«, fuhr Seshar gnadenlos fort. »Unsere Urväter waren Piraten und Mörder, die hierhergekommen waren, um ein wehrloses Land zu überfallen und seine Bevölkerung in die Sklaverei zu verschleppen. All die Geschichten von unserer großen Vergangenheit, jedes einzelne Wort von Rache und Vergeltung, das wir euch erzählt haben, war gelogen.«
    Bernecs Gesicht zuckte. Speichel rann aus seinen Mundwinkeln und tropfte an seinem Kinn herab. »Warum?« würgte er. »Warum… habt… Ihr… das… getan?«
    »Weil es die einzige Möglichkeit war, unser Volk zu retten«, fuhr Seshar leise fort. »Das Volk von Urc hat sich niemals von jener Schlacht erholt, und unsere Vorfahren waren Gefangene der Wüste geworden. Es gab nur diese eine große Lüge, um ihnen die Kraft zum Weiterleben zu geben. Wir tilgten jede Erinnerung an unsere wirkliche Vergangenheit und erzählten unseren Kindern jene Geschichte, die ihr kennt und mit der ihr aufgewachsen seid. Es waren die ersten Könige von Cearn, die die Legende des verlorenen Paradieses schufen, und seither wird dieses Geheimnis von Generation zu Generation weitergegeben. Nur die Könige wissen es, Bernec, und es darf nie, nie gelüftet werden.«
    Bernec wimmerte. »Hör auf«, bat er. »Bitte, hör auf. Sag, daß das alles nicht wahr ist! Sag es!«
    Aber Seshar schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß, was jetzt ii. dir vorgeht«, sagte er sanft. »Auch ich habe einmal so wie du biergestanden, und auch ich habe meinen Vater angeschrien und gehaßt. Die Krone von Ipcearn ist schwer, Bernec, vielleicht schwerer als irgendeine andere Königskrone auf der Welt. Du wirst noch spüren, was es bedeutet, ein Leben lang mit einer Lüge leben zu müssen, sein Volk mit jeder Silbe, jedem Augenblick des Tages und der Nacht belügen und täuschen zu müssen. Wir werden nach Cearn zurückkehren, du, Coar und ich, und dann wirst du diese Last für mich tragen.«
    Bernec wollte auffahren, aber Seshar sprach schnell und hastig weiter. »Ich kann dir nicht mehr helfen, Bernec. Es ist zuviel geschehen, als daß es einen anderen Weg gäbe. Wir werden zurückkehren, und du und Coar werdet den Thron von Ipcearn besteigen und mein Werk fortsetzen. Ich beneide euch nicht um diese Aufgabe.« Er brach ab, und für Sekunden senkte sich eine tiefe, beinahe tödliche Stille über den winzigen Balkon.
    »Del und Skar«, fuhr er nach einer Ewigkeit fort. »Ihr werdet hierbleiben müssen. Es gibt keinen anderen Weg.«
    Skar nickte. Die Bewegung kostete ihn ungeheure Überwindung. »Ich weiß«, antwortete er. »Ich wußte es, als ich die Pferde und die Lebensmittel sah. Sie sind für uns, nicht?«
    Seshar nickte. »Ihr werdet Wasser und fruchtbares Land
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