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Entfuhrt

Entfuhrt

Titel: Entfuhrt
Autoren: Koppel Hans
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eigenes Klassenfoto aussah.
    Wen hatte er vergessen? An wen erinnerte er sich?
    Und wer erinnerte sich an ihn?
    Vielleicht hatte der eine oder andere ja etwas über ihn gelesen? In den Wirtschaftsblättern hatte alles Mögliche über ihn gestanden, von Geld und Erfolg war dort die Rede gewesen. Aber es erkannte ihn niemand, wenn er in einen U-Bahn-Wagen einstieg.

    Jörgens Leben erinnerte an eine erfolgreiche Partie Monopoly. Plötzlich hatte er mit allen Hotels und Häusern dagesessen und Geld verdient, ohne sich anstrengen zu müssen. Und die Geldstapel wuchsen.
    Sein erstes Geld hatte er mit einer Internetfirma verdient. Sie hatten große Reden über die Zukunft und ihre Möglichkeiten geschwungen, aber im Grunde genommen nur Homepages entworfen. Damals hatten nur Eingeweihte mit der Abkürzung IT etwas anfangen können, während alle Firmen ihre Mitarbeiter weiter zu Kursen über die Anwendung einfachster Textverarbeitungsprogramme schickten.
    Jörgen war dem Rampenlicht entronnen, weil seine beiden Kollegen und Mitbegründer der Firma PR-geil waren und jede Gelegenheit genutzt hatten, sich ablichten zu lassen.
    Die Firma hatte nie Gewinne verzeichnet, trotzdem war sie zeitweilig an der Börse über zwei Milliarden Kronen wert gewesen. Jörgen konnte über diesen Irrsinn nur den Kopf schütteln, was seine vom Erfolg berauschten Kollegen provozierte, die fleißig in der Wirtschaftspresse zitiert wurden und offenbar selbst an ihre Zukunftsvisionen glaubten. Schließlich hatten sie sich anerboten, Jörgen auszuzahlen, indem sie ihm seinen Aktienposten zum halben Börsenwert abkauften. Sie lachten sich ins Fäustchen, als er ihr Angebot annahm, 100 Millionen Kronen bar auf die Hand, danke und Tschüs.
    »Das dümmste Geschäft des Jahres?«, lautete die Überschrift der Zeitungsnotiz, die weitgehend mit der Pressemitteilung
übereinstimmte, die Jörgens Kollegen gut gelaunt verschickt hatten.
    Ein Jahr später waren die beiden hoch verschuldet, die Firma umstrukturiert und praktisch wertlos.
    Da hatte die Presse plötzlich großes Interesse an Jörgen gezeigt. Der aber hatte freundlich, doch nachdrücklich jede Interviewanfrage abgelehnt, eingedenk der im Suff gerne wiederholten weisen Worte seines besten Freundes Calle Collin, der als freiberuflicher Journalist für Illustrierte arbeitete:
    »Prominenz ist nie von Vorteil. Was immer du tust, zeige nie dein Gesicht. Sofern du kein Simon Spies bist, meide die Öffentlichkeit.«
    Calle Collin war einer der wenigen, der auf dem Klassenfoto, wie Jörgen es sich vorstellte, noch zu erkennen wäre. An wen erinnerte er sich sonst noch? An einige der hübschen, unnahbaren Mädchen. Jörgen fragte sich, was aus ihnen wohl geworden war. Falsch, eigentlich war es ihm egal, er hätte nur gerne gewusst, wie sie heute aussahen. Er hatte sie gegoogelt, aber keine Fotos gefunden, nicht einmal in Facebook. Das konnte kaum ein Zufall sein.
    Er stellte sich billigrotweingezeichnete Gesichter vor und tröstete sich mit dem Gedanken an ihren körperlichen Verfall. Brüste, die früher den Gesetzen der Schwerkraft getrotzt und seine sexuelle Fantasie beflügelt hatten, hingen nun verloren in kräftig gepolsterten Push-up-BHs.
    Oje, wie zynisch sich das anhörte. Jörgen hatte immer gedacht, dass er mehr über den Dingen stünde. Oder etwa nicht?

4. KAPITEL
    Ortswechsel, soziale Isolation
     
    Die Frau wird aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen und in eine neue, unbekannte Umgebung versetzt. Das dient mehreren Zielen. Die Frau verliert ihren Kontakt zu Verwandten und Freunden, ist desorientiert und geografisch verunsichert und somit vollkommen abhängig von der einzigen ihr bekannten Person, dem Täter. Indem man die Frau eine längere Zeit gefangen hält, wird die zeitliche und räumliche Verwirrung noch verstärkt. Dauert die Isolation lang genug an, empfindet das Opfer schließlich Dankbarkeit für jede Form menschlichen Kontakts, selbst für den erzwungenen.
     
    »Bist du sicher? Nur ein Glas. Du bist dann immer noch rechtzeitig zum Fernsehschauen wieder zu Hause.«
    »Ja, komm schon.«
    Ylva lachte. Sie war dankbar, dass sie es wenigstens versuchten.
    »Nein«, antwortete sie. »Ich bin heute mal brav.«
    »Du?«, sagte Nour. »Warum ausgerechnet heute damit anfangen?«

    »Weiß nicht. Vielleicht aus Spaß an der Abwechslung?«
    »Nur ein Glas?«
    »Nein.«
    »Sicher?«
    Ylva nickte.
    »Ganz sicher«, sagte sie.
    »Okay, okay, es sieht dir zwar nicht ähnlich, aber okay.«
    »Dann
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