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Engelsfluch

Engelsfluch

Titel: Engelsfluch
Autoren: Joerg Kastner
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den freien Blick auf das Gotteshaus. Es war außerhalb Trasteveres kaum bekannt, und darüber war Sandrina auch ganz froh. Die Touristen sollten sich lieber die berühmte Santa Maria in Trastevere ansehen, dann blieb Sandrina beim Beten wenigstens ungestört. Hier in Santo Stefano hatte sie Ernesto vor vierundvierzig Jahren geheiratet, hier hatte sie ihre Tochter getauft und um Ernesto geweint. Hier wollte sie seiner in Ruhe gedenken, bis sie endlich neben ihm auf dem Friedhof lag.
    Während sie langsam auf das dunkle Kirchenportal zuschritt, dachte sie an Pfarrer Dottesio. Als er vor fünf Jahren die Gemeinde übernahm, hatten sich die Menschen hier gewundert.
    Es hieß, der Pfarrer habe eine bedeutende Stellung im Vatikan gehabt. Wie konnte es dann sein, dass er in eine so kleine Kirche geschickt wurde? Die Leute munkelten von einer Strafversetzung und davon, dass Dottesio es bestimmt nicht lange hier aushalten würde. Aber er hatte sich in das neue Umfeld eingefügt, war bescheiden und immer höflich, und inzwischen betrachteten die alteingesessenen Gemeindemitglieder ihn fast als einen der Ihren.
    Nur schwer ließ sich die knarrende Kirchentür öffnen, jedenfalls für eine alte Frau. Noch während Sandrina die rechte Hand ins Weihwasserbecken tauchte, um sich zu bekreuzigen, fiel die Tür hinter ihr wieder zu. Sandrina war von Kälte und Dunkelheit umfangen. Der Weihrauchgeruch kitzelte ihre Nase, und ihr Niesen hallte im Kirchenschiff überlaut wider. Hatte sie jemanden beim Gebet gestört? Als ihre Augen sich an den Halbdämmer der Kirche gewöhnt hatten, stellte sie erleichtert fest, dass sie allein war. Natürlich, der Fußball! Sie ging zwischen den alten Holzbänken entlang und blickte zum Opferstock, wo die kleinen Kerzen flackerten. Es gab auch größere Kerzen, aber von denen brannten nur wenige. Sie kosteten fünfzig statt zwanzig Cent. Sandrina beschloss, heute eine große Kerze zu nehmen. Wenn sie schon mit schmerzenden Füßen herkam, sollte Ernesto auch etwas davon haben. Ihr Geldstück fiel mit einem hellen Geräusch in den Opferstock. Sie nahm eine Kerze, entzündete sie und stellte sie direkt unter die Füße der großen Statue des heiligen Stephanus, der wegen seines Bekenntnisses zu Jesus Christus gesteinigt worden war.
    Sie blickte zu dem Erzmärtyrer auf, und er schien ihr aufmunternd zuzublinzeln. Natürlich war das nur ein Reflex des unsteten Kerzenlichts, das in der zugigen Kirche keine Ruhe finden konnte.

    Trotzdem freute sich Sandrina darüber und ging die paar Schritte in Richtung Altar, um unter dem gewaltigen hölzernen Kruzifix mit der mannshohen Jesusfigur ihr Bittgebet zu sprechen. Den Blick ehrfürchtig gesenkt, fiel sie unter dem Heiland auf die Knie und begann im Flüsterton das Vaterunser zu sprechen, wie sie es schon als kleines Kind von ihrer Großmutter gelernt hatte.
    Als sie etwas Feuchtes auf ihrer linken Wange spürte, erschrak sie. Mit einem leichten Platschen fiel vor ihr etwas auf die steinernen Stufen zum Altarraum. Ein Tropfen. Rot.
    Unwillkürlich fuhr ihre rechte Hand zur linken Wange, und sie berührte vorsichtig mit dem Zeigefinger die feuchte Stelle.
    Zögernd hielt sie sich den Finger vor das Gesicht und betrachtete die Kuppe. Sie war rot. Blutrot.
    Sandrinas Erschrecken wuchs, und gleichzeitig mischte sich ein unheimlicher Gedanke darunter – der Gedanke an ein Wunder. Die Figur des Erlösers über ihr blutete! Aber als sie den Kopf in den Nacken legte und nach oben blickte, erkannte sie ihren Irrtum. Nicht der Heiland hing am Kreuz, sondern ein Mann im dunklen Anzug und mit weißem Römerkragen. Ein Geistlicher. Ans Kreuz genagelt wie zweitausend Jahre vor ihm Jesus Christus, hing dort Pfarrer Dottesio und starrte Sandrina aus weit aufgerissenen Augen an.
    »Gekreuzigt, sagst du, wie Jesus? Und wir sollen hin? Aber was ist mit dem Vatikan? Du hast gesagt, nach unserem Auftritt im Fernsehen sollen wir … Ah, Emilio … verstehe. Aber wieso kann Emilio das nicht übernehmen, und wir fahren wie vorgesehen … Gut, na schön, wir fahren hin.«
    Mit einem unwilligen Seufzer ließ Elena Vida das Handy sinken und legte es achtlos in die kleine Ablage des winzigen Autos. Ihre grünen Augen funkelten zornig wie die eines erregten Raubtiers. Alexander Rosin auf dem Beifahrersitz kannte seine Freundin gut genug, um zu wissen, dass mit ihr in diesem Augenblick nicht gut Kirschen essen war.
    »Was ist los?«, fragte er vorsichtig. »Haben die Großmächte aus
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