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Ende (German Edition)

Ende (German Edition)

Titel: Ende (German Edition)
Autoren: David Monteagudo
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Brise durchzogenen Stille ertönt plötzlich schauderregend der Schrei eines Raubvogels, der am blauen Himmel seine Kreise zieht.
    Mitten auf der Fahrbahn quält Eva sich die Steigung hinauf. Man könnte meinen, dass sie langsam geht, aber es wirkt nur so. Denn sie geht an den überproportioniert groß wirkenden Aufschriften vorbei, die auch bei hoher Geschwindigkeit lesbar sein müssen.
    Wir wissen nicht, was sie mit ihrem Fahrrad gemacht hat, auf dem sie bis vor knapp zwei Stunden unterwegs gewesen ist. Wir wissen nicht, ob sie einen platten Reifen hatte, ob sie gestürzt ist oder ob sie einfach nicht mehr in die Pedale treten wollte. Jedenfalls geht sie die letzten Kilometer, die sie von der Stadt noch trennen, zu Fuß, auf dem heißen Asphalt, in der glühenden Sonne. Bei sich hat sie nur die Pistole, die an der rechten Hand hängt, und die Munition, die ihre Hosentasche ausbeult. Sonst nichts: kein Wasser, kein Essen, nicht einmal ihre Sonnenbrille. Ihr Haar ist offen, trocken, zerzaust. Ihre Ellbogen und Knie sind rau und weißlich, bilden einen Kontrast zu ihrer dunklen, glänzenden, samtweichen Haut. Sie schwitzt kaum, nur noch unter den Achseln, wo sich über der Salzschicht anderer, längst getrockneter Flecken ein weiterer Fleck gebildet hat. Tropfen rinnen ihr von der Stirn, suchen die Furchen, die ihre Tränen in die staubbedeckte Haut gezogen haben.
    Eva ist müde, ihr Gesicht ist schlaff, ihr Unterkiefer hängt herunter. Wie unter Drogen starrt sie zum Horizont. Plötzlich geht ein Ruck durch sie. Nervös blickt sie erst nach links und rechts, dann nach hinten. Sie hebt die Pistole, die wie ein totes Gewicht an ihrem Arm gehangen hat.
    «Die Stadt … die Stadt», stammelt sie und sieht wieder nach vorne. «Ich werde es bis in die Stadt schaffen. Ich werde durchhalten, bis zur Nacht durchhalten, und wenn ich niemanden antreffe …»
    Sie verstummt, scheint aber ihren wirren Monolog innerlich fortzusetzen.
    Still und einsam liegt die Autobahn da, aber sie ist nicht leer. Eva geht zwischen Autos hindurch, die mal mitten auf der Fahrbahn stehen, mal an die rechte oder mittlere Leitplanke gequetscht, nachdem sie über Dutzende von Metern daran entlanggeschrammt sind. Eben erst ist sie an einer Massenkarambolage vorbeigekommen, an ineinander und übereinander geschobenen Autos mit zersplitterten Scheiben, die übelerregend nach Benzin und Motoröl gestunken haben, nach verbranntem Gummi. Jetzt aber, auf dieser letzten Geraden, stehen nur noch wenige Autos, in großem Abstand voneinander, ohne die Linien zu unterbrechen, die am Ende der Steigung zusammenlaufen.

    Eva ist nun fast an der Kuppe angelangt. Sie bleibt noch einmal stehen und schaut blinzelnd nach oben, weil das Sonnenlicht sie blendet. Vielleicht hat sie der flüchtige Schatten eines der Vögel aufgeschreckt, die vom Himmel Besitz ergriffen zu haben scheinen. Dann nimmt sie die letzten Meter der Steigung in Angriff, ohne noch einmal den Blick von der Niederung zu lösen, in der die Stadt liegt.
    Auf Evas Gesicht zeichnet sich erst Verwunderung ab, dann Unverständnis, dann Neugier. Zeit verstreicht, eine Minute. Eva geht immer schneller, getrieben von dem Drang, mehr zu sehen. Misstrauen und Bestürzung stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Noch steigt das Gelände leicht an. Eva geht weiter, immer weiter, mit glänzenden Augen, mit starrer Miene. Dann wird die Fahrbahn flacher, und Eva verlangsamt ihre Schritte, bleibt stehen, fasziniert, unfähig, den Blick von dem Panorama zu lösen, das sich vor ihr auftut.
    Wir befinden uns jetzt einige Meter hinter ihr, wissen, dass zu ihren Füßen die Stadt liegt, auch wenn wir sie von unserem Standpunkt aus nicht sehen können. Ruhig steht Eva da, entkräftet, die Beine leicht gespreizt, die Schultern schlaff, besonders auf der Seite, an der die Pistole hängt. Sie hat abgenommen in den letzten Tagen. Von hinten betrachtet hat ihre Schlankheit etwas Zerbrechliches, Teenagerhaftes. Wir sehen ihre gelockten Haare, ihr weites, schmutziges T-Shirt, ihre schmale, schräg stehende Hüfte, ihre dünnen, die Fahrradhose kaum ausfüllenden Schenkel.
    Eine endlose Minute vergeht. Wir wissen nicht, was Eva denkt, sehen ihr Gesicht nicht. Doch wir nehmen eine besondere Spannung wahr, als würde gleich etwas passieren.
    Entschlossen geht Eva los, als hätte sie einen Teil der Energie wiedergewonnen, die sie in den letzten Tagen vorwärtsgetrieben hat. Das Gelände fällt zur Stadt hin ab. Von unserem Standpunkt aus
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