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Elfenherz

Titel: Elfenherz
Autoren: Holly Black
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bereits verpasst hatte.

2
    Sie schwingen die Flügel zu einem letzten
hoffnungslosen Flug:
Blinde Motten gegen die Drähte der Fenstergitter.
Alles. Alles für einen Schuss Licht.
    X.J. KENNEDY,
»STREET MOTHS«; THE LORD OF MISRULE

    V al döste wieder ein. Sie hatte sich auf den kalten Fliesen unter dem U-Bahn-Fahrplan ausgestreckt und ihr Kopf lag auf ihrem fast leeren Rucksack. In der Annahme, dass niemand sie vor anderen Leuten ausrauben oder abstechen würde, hatte sie sich einen Schlafplatz in der Nähe eines Drehkreuzes gesucht.
    Den Großteil der Nacht hatte sie in einem Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachen verbracht, war einen Moment eingenickt und im nächsten ruckartig wieder wach geworden. Mehrmals schreckte sie aus einem Traum hoch und wusste nicht, wo sie war. Die U-Bahn-Station stank, selbst ohne Wärme, die Gerüche befördert, nach modrigem Müll. Über der brüchigen Farbe und dem Schimmel erinnerte ein reliefartiger Rand aus geflochtenen Tulpen an eine frühere Spring Station, die einmal alt
und großartig gewesen war. Sie stellte sich diese U-Bahn-Station vor, als sie wieder wegdriftete.
    Das Allerseltsamste war, dass sie keine Angst hatte. Sie fühlte sich weit weg von allem, eine Schlafwandlerin, die den Pfad des normalen Lebens verlassen hatte und nun im Wald hauste, wo alles Mögliche passieren konnte. Wut und Betroffenheit waren zu einer Lethargie abgekühlt, die bleischwer auf ihren Gliedern lag.
    Als sie das nächste Mal verschlafen die Augen öffnete, standen Leute über ihr. Sie setzte sich auf, kramte mit einer Hand in ihrem Rucksack und hielt sich die andere wie einen Schutzschild vors Gesicht. Zwei Polizisten blickten auf sie hinunter.
    »Morgen«, sagte der eine, ein Mann mit grauem Kurzhaarschnitt und gerötetem Gesicht, als hätte er zu lange im Wind gestanden.
    »Hallo«, sagte Val und wischte sich mit dem Handrücken den Schlaf aus den Augen. Ihr Kopf tat weh.
    »Das ist ein mieser Ort zum Pennen«, sagte er. Pendler rauschten an ihnen vorbei, aber nur einige wenige schenkten ihr einen Blick.
    Val fragte mit zusammengekniffenen Augen: »Und?«
    »Wie alt bist du?«, fragte der andere Polizist. Er war jünger, schlank, mit dunklen Augen, und sein Atem roch nach Zigaretten.
    »Neunzehn«, log Val.
    »Kannst du dich ausweisen?«
    »Nein«, sagte Val in der Hoffnung, dass sie ihren Rucksack
nicht durchsuchten. Sie hatte keinen Führerschein, weil sie durch die Prüfung gefallen war, aber eine Fahrerlaubnis, auf der stand, dass sie erst siebzehn war.
    Der Polizist seufzte. »Hier kannst du nicht schlafen. Sollen wir dich irgendwohin bringen, wo du dich ausruhen kannst?«
    Val stand auf und warf sich den Rucksack über die Schulter. »Schon gut, ich habe nur gewartet, bis es Morgen wird.«
    »Wo willst du hin?«, fragte der ältere Bulle und versperrte ihr den Weg.
    »Nach Hause«, antwortete Val, weil sie dachte, das würde sich gut anhören. Sie duckte sich unter seinem Arm hindurch und raste die Treppe hinauf. Auf der Crosby Street rannte sie mit wild klopfendem Herzen durch die Menschenmenge, vorbei an den müden Frühschichtarbeitern, die ihre Rucksäcke und Aktenkoffer schleppten, vorbei auch an den Fahrradkurieren und Taxis. Der Dampf rauschte bauschend aus den Gittern unter ihren Füßen. Als sie langsamer ging und sich umschaute, konnte sie keine Verfolger entdecken. Sie bog in die Bleecker Street ein, wo ein Haufen Punks den Bürgersteig mit Kreide bemalte. Einer von ihnen hatte einen Irokesen in Regenbogenfarben, der oben leicht eingedrückt war. Val ging behutsam um ihre Kunstwerke herum und lief weiter. Für Val war New York immer ein Ort gewesen, an dem ihre Mutter sie fest an der Hand gehalten hatte, ein Ort der glitzernden Raster an verglasten Wolkenkratzern, der dampfenden
Cup-O’Noddles-Reklame am Times Square, die drohte, kochende Brühe auf die Kids zu schütten, die am TRL-Studio anstanden. All das war nur wenige Blocks von den Theatern entfernt, wo Les Misérables bei Highschool-Matineen für Französischschüler aufgeführt wurde, die mit Bussen aus den Vororten herangekarrt wurden. Doch als sie jetzt auf die Macdougal Street einbog, kam ihr New York viel überwältigender vor als in ihrer Vorstellung. Sie kam an Restaurants vorbei, die langsam zum Leben erwachten, die Türen noch geschlossen; an einem Maschendrahtzaun, der mit über einem Dutzend Schlössern verziert war, allesamt mit Babygesichtern verschönert; an einem Laden, der nur
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