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Eiszart

Eiszart

Titel: Eiszart
Autoren: Kerstin Dirks
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des intensiven Geschmacks, der noch immer auf ihrer Zunge lag.
    »Du bist Veruschka Tereschkowa, nicht wahr?«, fragte Vladimir plötzlich.
    »Ihr kennt mich?« Sie wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, versuchte verzweifelt, den bitteren Nachgeschmack hinunterzuwürgen.
    Vladimir nickte. »Ich bin dir schon einmal auf dem Markt begegnet, du hast mir ein Paar Stiefel verkauft. Diese hier.« Er deutete auf seine Lederstiefel. Veruschka erinnerte sich, aber aus irgendeinem Grund hatte sie geglaubt, Vladimir wäre schon vor einigen Wintern verstorben. Es stimmte sie froh, dass dem offenbar nicht so war. Vladimir holte eine Decke unter der Sitzbank hervor. »Hüll dich ein und halte dich gut fest.« Sie zweifelte daran, dass die Decke jetzt überhaupt noch nötig war, nahm sie aber dennoch an.
    »Bringt Ihr mich nach Hause, ja?«
    »Ich fahre dich ein Stück.« Er schloss die Kutschtür, und sie konnte durch das Fenster beobachten, wie er geradezu leichtfüßig auf den Bock sprang, die Zügel anzog, und dann ging es los. Die Pferde wieherten und schnaubten. In Windeseile rauschte die Kutsche durch den Schneesturm. Veruschka hüllte sich nun doch in die Decke und betrachtete die weißen Hügel, die wie im Rausch an ihr vorbeizogen. Der Schnee leuchtete hell in der Nacht, während alles um ihn herum in Schatten versank. Nach einer Weile wurde sie jedoch misstrauisch, sie hätten das Haus ihrer Familie längst erreichen müssen, stattdessen gerieten sie immer tiefer in die Taiga hinein. Offenbar hatte der Kutscher sich verfahren! Sie musste ihn auf seinen Irrtum aufmerksam machen. So steckte sie den Kopf durch das Kutschfenster, hielt ihren Schal fest, der vom immer stärker werdenden Sturm fast weggeweht wurde, und schrie gegen das Tosen an. »Vladimir! Das ist der falsche Weg! Kehrt bitte um!«
    Der Kutscher aber reagierte nicht. Hörte er sie tatsächlich nicht, oder ignorierte er sie absichtlich? Wütend klopfte sie mit der flachen Hand auf das Kutschdach. Keine Reaktion. »Ich bitte Euch, haltet an!«
    »Wir sind noch nicht am Ziel«, schrie er gegen den Sturm an. Offenbar konnte er sie ja doch hören. Aber von welchem Ziel sprach er?
    »Bitte lasst mich gehen!«
    Vladimir fuhr einfach weiter. Verärgert rüttelte Veruschka an der Tür, in der Absicht, zur Not auch während der Fahrt herauszuspringen, doch zu ihrem Schrecken ließ sich diese nicht öffnen, sie war verriegelt. Sie zog und zerrte an dem Knauf. Vergeblich. Wütend schlug sie mit der Faust gegen das Holz. Konnte sie es wagen, aus dem Fenster zu klettern und dann abzuspringen? Bei dem Versuch würde sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit den Hals brechen. Doch das war möglicherweise immer noch besser, als tatenlos herumzusitzen und abzuwarten, wohin dieser verrückte Kutscher sie bringen würde. Was hatte er nur mit ihr vor? Ihr schossen die furchtbarsten Gedanken in den Kopf.
    Da bemerkte sie plötzlich, dass Vladimir die Geschwindigkeit drosselte. War er endlich zur Vernunft gekommen? Ließ er sie gehen? Die Karosse hielt an, und kaum einen Wimpernschlag später ging die Kutschtür auf, als wäre sie niemals verschlossen gewesen. Veruschka machte sich bereit, sofort herauszuspringen und dann so schnell wie möglich fortzulaufen, völlig gleich, wohin. Sie wusste ohnehin nicht, wo sie sich gerade befanden. Alles war besser, als sich von einem totgeglaubten Kutscher entführen zu lassen.
    Doch noch ehe Veruschka einen Schritt in die Freiheit machen konnte, versperrte ihr eine Dame in einem edlen Kleid den Weg. Ihre Haare waren unter einer weißen, turmartigen Perücke verborgen, und auf ihrem Gesicht zeichneten sich mehrere Schichten Puder ab.
    »Würdest du bitte zur Seite treten, ich komme sonst nicht hinein«, sagte sie mit melodischer Stimme. Veruschka war viel zu überrascht und rückte auf ihre Bank zurück, so dass die Dame mit dem rauschenden Gewand einsteigen konnte. Sie setzte sich Veruschka gegenüber hin, lächelte sanft und fächerte sich mit einem Fächer frische Luft zu, als herrsche draußen Hochsommer statt tiefster Winter.
    »Du fährst also auch zum Schloss«, sagte die Dame und musterte sie prüfend von oben bis unten.
    »Zum Schloss?« Veruschka hatte keine Ahnung, wovon die Fremde sprach, sie wollte es auch gar nicht wissen, sie wollte nur raus aus dieser Kutsche, bevor diese wieder losfuhr. Und ausgerechnet das tat sie genau in diesem Moment. Die Räder setzten sich knarrend in Bewegung, aber die Kutschtür stand noch offen,
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