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Eiszart

Eiszart

Titel: Eiszart
Autoren: Kerstin Dirks
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Herzen liebte. Onkel und Tante hielten das für Spinnerei. Eine wie sie sollte besser froh sein, wenn ein Mann sie überhaupt zur Frau nahm. Veruschka warf den Schneeball, so weit sie konnte, er zersprang am Stamm einer alten Taigalärche. Die Wucht des Aufpralls schüttete den Schnee von den Ästen des Baumes.
    Veruschka ging immer weiter und weiter, stapfte unerschrocken durch den kniehohen Schnee. Etwas trieb sie mit aller Macht vom Haus ihrer Verwandten fort. Ein Ruf, eine Sehnsucht. Sie folgte bereitwillig.
    Mit jedem Schritt spürte sie die Kälte mehr in ihren Gliedern, aber Veruschka biss die Zähne zusammen, so dass sie aufhörten zu klappern, und zog den Mantel fester um sich. Der Schneesturm wütete immer heftiger, und die Wolken ballten sich über ihr zusammen. Der Wind pfiff ihr lautstark um die Ohren, schon bald konnte sie nichts mehr sehen außer einer undurchdringlichen Schneewand.
    Vielleicht sollte sie besser umkehren. Es schien, als würde die Luft gefrieren, sie in ein kristallenes Gefängnis zwängen. Veruschka drehte sich um, wollte zurückeilen, aber sie wusste nicht mehr, aus welcher Richtung sie gekommen war. Ihre Spuren im Schnee waren längst verwischt. Überall sah es gleich aus. Eine einzige weite Fläche Schnee. Panik ergriff von ihr Besitz. Wenn sie nicht zurückfand, würde sie erfrieren. Sie rannte erst in die eine Richtung, dann in die andere, aber völlig gleich, wohin sie lief, sie konnte das Haus nicht finden.
    »Oh nein«, keuchte sie atemlos und hielt inne. Sie hatte sich verlaufen. Ausgerechnet in einer stürmischen Winternacht wie dieser! Wie hatte sie nur so töricht sein können, das Haus überhaupt zu verlassen? Die Kälte lähmte ihre Glieder, kroch hinauf bis zu ihrem Herzen, das immer langsamer und schwerfälliger pochte. Hätte sie nur auf ihre Tante gehört. Noch aber wollte Veruschka nicht aufgeben. In ihrer Brust schlug das Herz einer Kämpferin. Sie musste einen Unterschlupf finden. Eine Höhle. Irgendetwas, das ihr Schutz vor der beißenden Kälte bot. Sie zog den Schal über Nase und Mund und kämpfte sich abermals durch den Schneesturm. Der Wind tobte so fürchterlich, dass er ihr fast die Kleider vom Leib riss.
    »Ist da jemand? Ich bin hier«, rief sie, so laut sie nur konnte. Aber als Antwort hörte sie nur das Heulen des Windes, das in ihren Ohren höhnisch, fast wie ein böses Lachen klang.
    Veruschkas Kräfte ließen nach. Sie sank auf die Knie, rappelte sich gleich wieder auf, um noch ein paar Schritte zu gehen, und stürzte schließlich der Länge nach in den Schnee. Es war verführerisch, einfach liegen zu bleiben, sich der Kälte zu ergeben. Aber wenn sie jetzt einschlief, würde sie nicht mehr aufwachen. Die Eisflocken deckten sie zu, wahrscheinlich würde man sie erst im Frühjahr finden, wenn der Schnee dahinschmolz. Doch selbst das war ihr in diesem Moment egal. Die Kälte machte sie willenlos.
    Aus der Ferne hörte sie ein leises Knarren, im nächsten Augenblick war es viel lauter, und kurz darauf drehte sie jemand herum, und sie blickte in das gütige Gesicht eines Mannes in Kutscheruniform.
    »Was haben wir denn hier?«, fragte er überrascht und wischte ihr den Schnee von den Schultern. Veruschka konnte sich kaum bewegen, ihre Glieder waren steifgefroren, also trug er sie auf Händen zu einer edlen Kutsche, vor die zwei reinrassige Appaloosa gespannt waren.
    »Wer seid … Ihr?« Veruschka konnte ihre eigene Stimme kaum hören, so leise und erschöpft klang sie. Ihr Retter verstand sie jedoch trotzdem. Er setzte sie einfach in die Kutsche, zog eine Flasche unter seinem Mantel hervor und reichte ihr diese.
    »Ich bin Vladimir. Und du solltest besser das hier trinken!«
    »Was ist das?«, fragte Veruschka misstrauisch. In der Kutsche war es so warm wie an einem Kaminfeuer. Sie spürte, wie ihre Glieder lebendig wurden. Es kribbelte schmerzhaft in ihren Zehen und Fingerspitzen.
    »Wodka.« Er lächelte von einem Ohr bis zum anderen, und seine Pausbacken färbten sich rot.
    »Ich … mag keinen Wodka.«
    »Er wird dir helfen, nimm nur einen kleinen Schluck.«
    Sie nickte und streckte die Hand nach der Flasche aus, aber ihre Finger waren trotz der erstaunlichen Wärme innerhalb der Kutsche noch viel zu steif. Also setzte er die Flasche an ihre Lippen und kippte ihr den brennenden Fusel die Kehle hinunter. Mit einem Mal wurde ihr so heiß, dass der Schweiß in Sturzbächen über ihre Stirn floss. Sie hustete und keuchte, schüttelte sich vor Ekel ob
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