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Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)

Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)

Titel: Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
Autoren: Simone Buchholz
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Weile am Strand entlang, schmeißen ein paar Steine und Stöcke auf die Eisschollen. Wir feuern Strandgut ab. Dann geht der Faller nach Hause, und ich gehe irgendwohin.
    *
    Es ist, als würde ich in einem Wirbelsturm stehen, genau in der Mitte. An dem Punkt im Sturm, an dem es ganz still ist. Da stehe ich also, und mein Blick klettert an dem Haus hoch, in dem ich wohne. Ganz langsam, Etage für Etage, Balkon für Balkon. Der Efeu, der zärtlich am ganzen Haus hochkriecht und es vielleicht eines Tages zum Einsturz bringen wird. Die schmiedeeisernen Balkongeländer. Der schmutzige Stuck, hier noch dran, da schon ab. Links und rechts fliegen die Raketen, am Himmel platzt das Feuerwerk auf. Noch eine halbe Stunde, dann ist Mitternacht. Schluss, aus, fertig mit diesem Jahr. Das nächste, bitte. Silvester mag ich vom Prinzip her eigentlich ganz gern.
    Meine Wohnung im dritten Stock ist dunkel. Schwarzdunkel. Da ist nicht mal ein Glimmern hinterm Fenster. Die Wohnung nebenan, Klatsches Wohnung, leuchtet ganz sachte. Nicht so wild und fröhlich wie sonst, aber sie leuchtet. Er ist da.
    Der Faller hat gesagt, ich soll Klatsche anrufen. Ich weiß nicht. Ich drücke mich lieber ein bisschen im Schatten rum. Nur noch zehn Minuten drück ich mich rum, hier unten im Hauseingang.
    Dann nehme ich mein Telefon, wähle Klatsches Nummer und trete ins zuckende Licht der Silvesternacht.
    »Hey«, sagt er.
    »Ich bin’s«, sage ich.
    »Ach nee. Wo steckst du denn?«
    »Ich bin unten«, sage ich.
    Er antwortet nicht, kommt aber ans Fenster. Hebt vorsichtig die Hand.
    »Hallo«, sage ich.
    »Hallo, Baby.«
    »Nenn mich nicht Baby«, sage ich.
    Ich sehe, dass er grinsen muss.
    »Was hast du denn noch vor heute?«, fragt er.
    »Nichts Besonderes«, sage ich. »Vielleicht ein paar Knallfrösche werfen.«
    »Ich hätte Raketen hier«, sagt er.
    »Raketen kann ich gut gebrauchen«, sage ich. »Komm doch mal runter.«
    »Kommst du danach mit mir nach oben?«, fragt er.
    Ich nicke, und er kann es sehen.
    »Aber wir machen kein Bleigießen, okay?«
    »Niemals«, sage ich. »Bleigießen ist was für Idioten.«
    Ich lege auf, sehe, wie er sich eine Zigarette anzündet, dann ist er weg vom Fenster. Ein paar Augenblicke später geht im Treppenhaus das Licht an. Als er vor mir steht, in der einen Hand seine Zigarette, in der anderen Hand fünf Raketen, ist es, als würde warmer Honig in mein Herz laufen. So sieht meine Heimat aus: dunkelblonde, struppige Haare über grünen Augen, Sommersprossen und einem unverschämten Grinsen. Ohne Heimat lebt es sich einfach nicht besonders gut.
    »Und?«, fragt er.
    »Was und?«
    »Bist du wieder da? Kann ich wieder mit dir rechnen?«
    »Kannst du«, sage ich.
    »Und was mach ich, wenn du wieder abhaust?«
    »Du haust ja auch manchmal ab«, sage ich.
    »Das ist natürlich richtig«, sagt er, zieht an seiner Zigarette und macht ein Steve-Mc-Queen-Gesicht in Richtung Hafen. »Schlaues Mädchen.«
    Er kuckt einmal nach links und einmal nach rechts, so als würde er für uns beide den günstigsten Weg durchs Feuergefecht suchen, und ein bisschen ist es ja auch so. Das Auge des Sturms, in dem ich eben noch stand, hat sich aufgelöst oder ist zumindest eine Straße weiter gezogen. Wir befinden uns mitten im Gewirbel, mitten im Geballer. Um uns herum fliegt alles in die Luft. Es ist zehn Minuten vor zwölf.
    »Hier lang«, sagt Klatsche, schmeißt seine Zigarette weg, nimmt meine Hand und zieht mich in Richtung Apotheke, ganz nah an den Häusern entlang. So kurz vor dem Jahreswechsel ist es auf Sankt Pauli immer, als wären die apokalyptischen Reiter unterwegs, aber die lustigen.
    »Scheiß Bürgerkrieg«, sagt Klatsche, zieht mich um die Ecke, und wir finden einen sicheren Platz im nächsten Hauseingang. Da stehen wir also, Hand in Hand, und warten auf Mitternacht. Über uns explodiert das Firmament. Gleich wird man von dem ganzen Feuergetöse nichts mehr sehen. Dann wird so viel Rauch über den Dächern stehen und von der kalten Luft nach unten gedrückt, dass die Straßen in dichten Nebel gehüllt sind.
    »Hast du eine Uhr dabei, Frau Staatsanwältin?«
    Ich hole mein Telefon aus der Manteltasche.
    »Noch sieben Minuten«, sage ich.
    »Das sollte reichen«, sagt er.
    »Wofür?«
    »Hierfür«, sagt er, zieht mich an sich und fängt an, mich zu küssen, als gäbe es einen Wettbewerb zu gewinnen. Ich lasse es zu, und ich lasse mir alles wegküssen von ihm. Alles, was die letzten Tage so schwergemacht hat. Das konnte er
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