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Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)

Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)

Titel: Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
Autoren: Simone Buchholz
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das leistet. Warum sie da nicht auch endlich mal ein paar Bürotürme oder teure Eigentumswohnungen draufstellen. Machen sie ja sonst überall, wo nur ein Fitzelchen Platz ist. Aber das Heiligengeistfeld fassen sie nicht an. Als wäre da im Rathaus eine Art kollektives Sentiment für den alten Betonplatz. Eine alle Regierungen überlebende zarte Melancholie, die das riesige schiefe Rechteck beschützt, das aus jeder Stimmung in Sekundenschnelle Sehnsucht oder eine Depression machen kann, je nach Tagesform.
    Gerade mal drei Monate im Jahr ist es hier pickepacke dicht, läuft hier das große Sich-auf-die-Füßetreten, nämlich dann, wenn Hamburger Dom ist. Der große Rummel, immer vier Wochen am Stück, im Frühling, im Sommer und im Winter. Vorher wird vier Wochen aufgebaut, danach wird vier Wochen abgebaut. Ansonsten ist auf dem Heiligengeistfeld nur ein klein bisschen was los, eigentlich wirklich nicht genug, um so einen leerstehenden Platz zu rechtfertigen. Da kommt vielleicht mal ein Zirkus. Oder irgendein Telefonkonzern oder eine Supermarktkette stellt ein Belustigungszelt auf. Oder es ist Fußballweltmeisterschaft oder Fußballeuropameisterschaft, dann werden natürlich sofort gigantische Leinwände für alle aufgezogen, und es wird getrunken und gepinkelt, und es gibt kein Halten mehr. Ich halte mich vom Heiligengeistfeld fern, wenn es voll ist. Ich mag’s lieber so wie jetzt: frei.
    Der böige Wind hat Kraft, er weht von der Seite und wirbelt kleine Schneestaubwolken auf, die in Richtung Millerntorstadion huschen. Da steht die alte Gegengerade, das wackelige Gerüst. Gerade von der Rückseite aus betrachtet, sieht das Ding aus wie ein rostiges Provisorium. Kann man sich gar nicht vorstellen, dass da fünftausend Leute drauf rumgrölen können, ohne dass es auf der Stelle zusammenbricht.
    Linker Hand, genau zwischen mir und dem Stadion, versucht ein Mann, sich auf einem der übers ganze Heiligengeistfeld verteilten Stromkästen eine Zigarette zu drehen. Er sieht aus wie ein aus der Zeit gefallener Seemann. Blaue Wollmütze, kariertes Holzfällerhemd, dunkelblaue Marinejacke, zerknülltes Gesicht. So einer kann Wind ab. Sein Tabak kann das aber leider eher schlecht. Klappt nicht so gut mit der Zigarette. Er packt seinen Krempel zusammen, läuft zum nächsten Stromkasten und versucht es da noch mal. Wieder nichts. Langsam wird er maulig, das kann man sehen, sein Gesicht wird immer knülliger. Ich lasse mich vom Wind ein bisschen in seine Richtung treiben, bleibe vor ihm stehen und biete ihm eine von meinen Luckies an.
    »Nee, min Deern. Lass mo steck’n. Aber kanns’ mir büschen Schutz geben?«
    Seine Stimme klingt wie ein großes, altes Stück Sandpapier.
    Ich stelle mich mit dem Rücken zum Wind, mache meinen Mantel auf und breite ihn über dem Stromkasten aus. Der Seemann hat sich in null Komma nix eine astreine Kippe gedreht. Er steckt die Zigarette in den Mundwinkel, tippt mit dem rechten Zeigefinger an seine Wollmütze und stapft davon. Als er auf Höhe des alten Hochbunkers ist, holt er ein Sturmfeuerzeug aus seiner Jackentasche und zündet sich die Zigarette an. Ihr Qualm vermischt sich mit der dünnen Sonne, dem dicken Wind und dem wirbelnden Schneestaub in der Luft. Ich atme tief ein. Es ist kälter geworden in den letzten Tagen. Da kommt ein Wetter aus Russland zu uns herübergekrochen. Nachts schneit es manchmal, vor einer Woche erst ist der Regen in Schnee übergegangen. Es schneit nicht heftig, der Wind weht nur ab und zu einen Sack voller Flocken vor sich her, nur immer mal wieder eine halbe Stunde lang. Auf den Dächern der bombenlöchrigen, zahnlückigen Häuserreihe in der Feldstraße liegt ebenso zahnlückiger Zuckerguss. Auf den Straßen und Gehsteigen tut sich der Schnee tagsüber zu kleinen Grüppchen zusammen. Am Abend zieht er sich dann in die Ecken zurück.
    Irgendwer hat hier und da einen Eimer Sand oder Rollsplitt ausgeschüttet, aber meistens genau da, wo es eisfrei ist. An Stellen also, an denen ihn keiner braucht. Die Hamburger sind ja professionelle Pragmatiker und können eigentlich mit allem schnell gut umgehen, aber beim Anblick von Schnee agieren sie immer ziemlich amateurhaft.
    Ich überquere die Feldstraße an der Fußgängerampel und biege in die Glashüttenstraße ein, dann lässt der Wind nach. Meine Schultern und mein Nacken entspannen sich, und ich merke, wie mich das Karolinenviertelgefühl überfällt. Es ist, als wäre ich in eine kleine Extrawelt geworfen worden,
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