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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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Wahrheit mehr das, was einem grad einfällt, als persönliche Ansichten und echte Überzeugungen vorgebracht werden –, wie in einem Spiel, ohne Absicht und Zweck, noch unabgesprochen und ohne richtige Kraft. Langsam werden die Gläschen mit Branntwein und Vermouth ausgetrunken, an Salzgebäck genagt, und zwischen Schluck und Bissen: Anmerkungen zum Wetter, zu persönlichen und ähnlichen Dingen, nach denen gefragt, denen aber nicht zugehört wird, die man sagt, aber nicht behält. Langsam und allmählich, wie Wasser über kleiner Flamme, erwärmt das Gespräch sich, die Kehle wird gesäubert, die Stimme ausprobiert, nebenbei, ohne richtige Kraft, über die Saite gestrichen – wie die Streicher vor einem großen Konzert, wie das Wetzen der Messer vor einem großen Gelage, und niemand will noch zeigen, was er hat und was er kann. In Wahrheit wartet man auf den wichtigsten Gast des Abends. Man weiß, er wird als letzter kommen, und sein Erscheinen in der Tür und sein Eintritt ins Zimmer sind das Zeichen für den zweiten Satz und den eigentlichen Beginn der Vorstellung.
    Draußen klingelt es tatsächlich, und die Hausfrau, schon besorgt und beunruhigt, eilt hinaus, und von draußen, durch die Glastür, hört man ihr erregtes, glückliches, sperlinghaftes Gezwitscher. Wenig später kehrt sie ins Zimmer zurück, ihn beim Arm führend, ihn, den Genossen Generaldirektor, der, ein kleinerer, aber breitschultriger Mann, zurückgebogen und wie widerwillig folgte und beim Eintreten unbestimmt lächelte – was in Wirklichkeit niemandem galt –, wie das Redner auf großen Versammlungen tun oder Schauspieler auf der Bühne.
    „Denkt euch“, wiederholte sie, „denkt euch, wieviel Schnee bereits gefallen ist! Der Wagen konnte sich kaum zu uns durchschlagen. Der Genosse Direktor mußte einen Teil des Weges zu Fuß gehn – die ganze Nischer Straße, mindestens hundertfünfzig Meter. Der Arme!“ sagte sie. „Setzen Sie sich jetzt, ruhen Sie sich aus, erwärmen Sie sich.“
    Ein winziger, kurzsichtiger Mann mit dem roten Gesicht eines zornigen Hündchens, der als Schriftsteller und diensthabender Lästerer des Kreises die Vergünstigung hat, bösartige Anmerkungen schwarzen Humors zu kultivieren und frei zu äußern, wirft ein, hämisch wie gewöhnlich, nicht so laut, daß man es ernst genommen, aber auch nicht so leise, daß man es nicht gehört hätte: „Wenn schon, was macht das dem Genossen Direktor aus, er hat sich im Krieg daran gewöhnt. Mag er sich jetzt wieder darin üben. Vielleicht braucht er’s noch mal.“ Die Hausfrau droht ihm dennoch mit dem Finger, und der Direktor, der sich in das tiefe und weiche Fauteuil vorsichtig hinabläßt, wie ein Nichtschwimmer in ein unbekanntes Gewässer, schaut verlegen um sich, nicht wissend, wie er diese Bemerkung auffassen soll, von der scherzhaften oder von der ernsten Seite, und endlich, nachdem er Grund unter sich verspürt und die Beine frei ausgestreckt hat, für alle Fälle, fängt er an:
    „Wahrlich ich hab mich auch satt marschiert. Ich erinnere mich – genauso, wir marschierten den ganzen Tag, danach forcierten wir den Fluß. Wir wateten durch das Wasser, als vor Abend, überraschend, Schnee uns zu peitschen begann …“
    Das ist die Einleitung in die Wiedergabe von Kriegserinnerungen. „Die einzige Sache, die er erlebt hat“, raunt der Lästerer jemandem ins Ohr. „Und das einzige, das er zu sagen hat.“ Die anderen haben des Direktors Kriegsgeschichten schon gehört, sie wissen, daß sie lange dauern, aber sie tun, als hörten sie zu, doch kommt die Hausfrau gewandt aus dem Nebenraum zu Hilfe und bittet zu Tisch.
    „Wer weiß, wie es jetzt draußen ist. Vielleicht schneit es noch immer?“ fragt beim Imbiß eine von den Frauen und schaut zu den dunklen Fenstern hin, hinter denen nichts zu sehen und nichts zu hören ist. Die Hausfrau, die sich bereits anderen zuwendet, bietet ihr schnell noch ihre Dienste an: „Wenn Sie zufällig Heizung brauchen, melden Sie sich morgen. Ich gebe Ihnen eine Verbindung“, und sie zeigt mit dem Kopf auf den Direktor, der aber eilt ihr entgegen und prostet ihr mit einem Gläschen in der Hand zu:
    „Ausgezeichnet! Auf Ihr Wohl! Wo haben Sie das besorgt?“
    „Weiß man doch. Eine ganze Kiste haben sie geschickt. Wir konnten es nicht ablehnen.“
    Sie stellte ihm einen jungen Maler vor, dem man auf jeden Fall ein Bild abkaufen sollte. Dann verlangte man von ihm, er solle im Zusammenhang mit irgend jemandes Anstellung und
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