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Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder
Autoren: Betty McDonald
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fünfzehn kleine Mädchen, und manchmal taten wir zwei Stunden lang nichts anderes, als daß wir forsch heraus traten, uns der Front zuwandten und „hier!“ sagten. Bei Gammy beklagten wir uns ausgiebig über unsere Turnlehrerinnen, und sie war eine höchst teilnahmsvolle Zuhörerin. „ Christlicher Verein Junger Mädchen, pah,“ knurrte sie, während sie uns große Tassen mit starkem Kaffee zuschob.
    Cleve hatte nicht viel Ärger mit seinen Turnstunden, aus dem einfachen Grund, weil er niemals hinging. Pflichtgemäß ließ er sich jeden Sonnabendvormittag im CVJM. sehen, nicht jedoch im Turnsaal. Er meldete sich im Lesezimmer, wo er friedlich sitzenblieb und sich Zeitschriften ansah, bis es Zeit zum Schwimmen war. Nach dem Schwimmen traf er sich mit uns zum Mittagessen, falls er nicht Lust hatte, am Wasser spazierenzugehen, was er häufig tat. Cleve war immer so. Ohne jeden Aufstand tat er genau das, wozu er Lust hatte.
    Als er in der Fünf b war, konnte er seinen Lehrer nicht leiden und ging infolgedessen nicht zur Schule. Wir lebten damals auf dem Lande und fuhren mit einem Bus zur Schule; Cleve stand jeden Morgen auf und stieg auch in den Bus ein, aber er stieg nicht aus. Er blieb drin und fuhr die ganze Schulzeit mit dem Autobusführer hin und her. Ich vermute, der Lehrer hat gedacht, wir seien fortgezogen. In der nächsten Klasse mochte er den Lehrer, also stieg er aus dem Bus aus und ging zur Schule.
    Wir erfuhren das ein paar Jahre später von dem Autobusführer, der inzwischen unser Wäschemann geworden war und gewöhnlich stundenlang in der Küche saß, Kaffee trank und zuhörte, was Gammy von der Verschwendung erzählte, die in unserem Haus herrschte. Als Beweis dafür zeigte sie ihm große, geöffnete, aber unangetastete Töpfe mit Marmelade, die sie her gestellt hatte, indem sie alle Reste von Obst, Marmeladen, Gelees, Apfelmus, Honig, Erdnußbutter und Bonbons zusammenkippte und das zu einer dunkelbraunen, klebrigen Masse einkochte. Wir nannten es „Gammy-Marmelade“ und rührten es nicht an. Als der Busführer Gammy erzählte, wie Cleve die Schule geschwänzt hatte, sagte sie:„Hier in diesem Haus tut jeder, was er gerade mag,“ und hielt einen großen Topf mit der ungegessenen Marmelade in die Höhe. „Sehen Sie sich das an, tadellose Marmelade, aber kein Mensch rührt sie an. Ich sag Ihnen ja, hier tun alle, was sie wollen.“
    Wenn wir im Erfrischungsraum des CVJM. Mittag gegessen hatten, gingen Mary und ich in unsere Tanzstunde, und jeden Sonnabend kamen wir nach Hause und erzählten Vater von den Beinen unserer Tanzlehrerin. „Vater, ihre Beine sind hart wie Stein!“ berichteten wir ihm. „Du müßtest mal mitkommen und die anfühlen.“ Er lachte immer darüber, und wir verstanden nicht, warum.
    Sonntags machten wir Vogelausflüge. Vater kaufte ein Buch über Vögel im westlichen Amerika mit farbigen Abbildungen, und bewaffnet mit dem, seinem Feldstecher, einem Notizbuch, mehreren Hunden und seinen quängelnden, uninteressierten Kindern, konnte er stundenlang am Lake Washington Boulevard entlangwandern. „Da flattert was,“ sagte er dann plötzlich und sah durch seinen Feldstecher in den dichten Wald. Wir alle blieben stehen, rempelten uns an, stießen uns und trampelten uns gegenseitig auf die Zehen. Wenn das Schubsen und Knuffen aufgehört hatte, nahmen wir der Reihe nach das Glas und richteten es auf den Boden oder auf ein entferntes Blatt. Selten sahen wir irgend etwas, behaupteten aber wir hätten etwas entdeckt, weil wir auf diese Weise schneller vorwärtskamen.
    Die Vögelausflüge waren des Wanderns wegen in das Gesundheitsprogramm aufgenommen, ursprünglich aber als letzter Punkt eines geistigen Ausbildungsprogramms angesetzt worden, das seit unserer Geburt auf vollen Touren lief. Sobald ein Baby geboren wurde, fing Vater damit an. Er hielt ihm Gegenstände vor die Augen, um festzustellen, ob und wie es sie darauf richtete. Frühzeitig waren wir alle auf Farbblindheit, Gleichgewichtsvermögen und Blickschärfe geprüft worden, und sobald wir sprechen konnten, wurden Intelligenzprüfungen gemacht. „Was ist das Gegenteil von Schwarz?“ war eine von Vaters Fragen. „Weiß,“ schmetterten wir die Antwort im Chor. „Von hoch?“ – „Niedrig.“ „Von oben?“ – „Unten.“ „Sprecht mir diese Zahlen nach!“ sagte er und rasselte an die siebenundzwanzig Zahlen herunter. „Nennt mir ein Synonym für Haus.“ – „Wohnung.“ „Für Frau.“ – „Weiblich.“
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