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Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder
Autoren: Betty McDonald
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stramm saßen, daß sie auf Zehenspitzen gehen mußte, und daß Cleves Mantel im Rücken zugeknöpft war, er dadurch vorn mit rotem Gesicht nach Luft rang und außerdem noch behindert war durch Marys Gamaschenhosen, die ihm so lang waren, daß sie wie dunkle, blaue Abendschatten hinter ihm über den Schnee krochen, und daß zudem alle unsere Gummischuhe für einen und denselben Fuß gemacht zu sein schienen.
    Wir blieben sofort stehen und verlangten, daß alles auseinandersortiert und neu zusammengestellt würde, aber Gammy sagte, dazu sei keine Zeit und in dem warmen Kino ginge das sowieso viel bequemer. Sie packte mich bei der Hand und ging weiter, die Straße hoch, aber Cleve und Mary kamen nicht nach. Sie setzten sich dickköpfig in den Schnee und fingen an, die glatten, kleinen, schwarzen Gamaschenknöpfe mit ungeschickten, in Fausthandschuhen steckenden Fingern mühselig aufzumachen. Gammy mußte schließlich umkehren und ihnen beim Umziehen helfen, und obwohl sie sich sehr viel wohler fühlten, versäumten wir den größten Teil des Charlie-Chaplin-Films.
    Gammy meinte, wir sollten uns nichts daraus machen, weil er gleich noch einmal von Anfang an laufen würde, aber da hatte sie sich geirrt, und so kam es, daß der Aussatz in unser Leben trat. Denn als die Vorstellung wieder losging, kam an Stelle von Charlie Chaplin ein langer, betrüblicher Film über Aussatz. Mir ist die Geschichte nur verschwommen im Gedächtnis geblieben, aber ich erinnere mich doch an irgend etwas von einem Mann, offensichtlich einem hervorragenden Wissenschaftler, der in seinem Laboratorium arbeitete, plötzlich von seinem Mikroskop direkt zu den Zuschauern aufsah und mit großen, erschrockenen Augen etwas sagte. Das Wort erschien als nächstes auf der Leinwand. Ganz allein und in schwarzen Lettern. „AUSSATZ!“ Gammy las es uns vor und tröstete uns mit der Erklärung: „Aussatz ist eine furchtbare Krankheit. Dagegen gibt es kein Mittel. Man stirbt immer!“
    Die folgenden Szenen zeigten, wie der hervorragende Wissenschaftler sich gründlich die Hände wusch, viele Male. Dann wusch er sich eines Morgens wieder einmal zufällig die Hände und sah dabei auf sein Handgelenk, und nun war da ein weißer Fleck in der Größe eines Fünfzigcents-Stücks. Er stürzte zu einem anderen Wissenschaftler und zeigte ihm den. Dann betrachteten sie beide den Fleck durch das Mikroskop, und selbstverständlich, es war Aussatz. Der übrige Film war den weißen Flecken gewidmet, grausigen Wunden, abfaulenden Armen und Beinen, einem schönen Mädchen, das Aussatz bekam, und einem Mann, der sich von einem Haus stürzte.
    Ich kann mich nicht erinnern, ob wir Charlie Chaplin überhaupt noch einmal sahen oder nicht, aber ich erinnere mich, daß wir auf unserem Heimweg unter einer Straßenlaterne stehenblieben, unsere Ärmel hochkrempelten und nach den gefürchteten weißen Flecken suchten, und daß wir noch Wochen danach jeden Morgen und Abend unsere Arme untersuchten und nach Flecken forschten. Cleve war mehrmals sehr beunruhigt, bis er merkte, daß der weiße Fleck auf seinem schmutzigen kleinen Arm genau die Stelle war, auf die aus Versehen etwas Wasser getropft war. Denn obwohl wir Angst hatten, waren wir doch noch nicht auf dem Punkt von Verzweiflung angelangt, an dem wir uns gründlich gewaschen hätten.
    Andrerseits bildeten wir uns ein, daß Vater, als Bergbauingenieur, eine Art Wissenschaftler sei, und wir beschworen ihn ständig, sich die Hände noch gründlicher zu waschen, und untersuchten jeden Morgen seine Handgelenke. Schließlich wollte er wissen, was zum Donnerwetter mit uns los sei, also erzählten wir ihm von dem Film. Sofort verbot er, daß wir je wieder in einen Film gingen, holte dann das Konversationslexikon heraus und las uns einen langen, ausführlichen Artikel über Aussatz und Reservate für Aussätzige vor. Wir hörten aufmerksam zu, da Vater sehr gut vorlas, und dann verglichen wir seine Belehrungen mit Gammys und entschieden, daß Gammy am besten Bescheid wüßte, denn sie hatte den Aussatz bereits zu Katarrh und Schwindsucht als landläufige Kinderkrankheit eingereiht. Aussatz, belehrte sie uns, sei die sofortige und natürliche Folge davon, daß man sich in schlechter Gesellschaft aufhielte und nicht genug wüsche.
    Als wir Kinder elf, neun, acht und zwei Jahre alt waren, zogen wir aus Butte fort und nach Seattle in Washington. Bis zu dieser Zeit und trotz Vaters Schutzmaßnahmen in Form von Leibesübungen und Mutters in
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