Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder
Autoren: Betty McDonald
Vom Netzwerk:
verwunderlich, weil nach Gammys Ansicht die Kindheit eine sehr gefährliche Zeit im Leben war, und wenn wir Kinder nicht von Klapperschlangen gebissen, wilden Tieren gefressen, Räubern getötet oder vom Blitz getroffen wurden, mußte man täglich mit Katarrh, Schwindsucht und Aussatz rechnen. Gammy meinte, Katarrh, Schwindsucht und Aussatz seien sehr verbreitete Krankheiten bei kleinen Kindern und würden hervorgerufen dadurch, daß man zu lange rodelt, sein Bett nicht macht, sich zankt, die Küken nicht füttert, sich in schlechter Gesellschaft aufhält, die Hände nicht wäscht, beim Krocket schummelt, frech ist und zu viele Eier ißt.
    Zuerst erfuhren wir von Katarrh und Schwindsucht. Aussatz kam etwas später an die Reihe. Alles, was oberhalb des Halses nicht in Ordnung war, diagnostizierte Gammy als „Katarrh“, alles unterhalb als „Schwindsucht“. Vor Katarrh hatten wir keine Angst. Das war bloß eine bekannte Geschichte, bei der uns die Nasen liefen und mit der sich oft eine der weniger interessanten Kinderkrankheiten ankündigte, etwa Masern, Scharlach und Windpocken. Aber Schwindsucht war etwas anderes. Der Ursache und Wirkung nach ließ sie sich nicht recht bestimmen, war aber wohl sehr tückisch und so leicht zu bekommen. Man denke an die „arme kleine Beth“, Robert Louis Stevenson, Chopin, Keats, O. Henry, Elizabeth Browning, Thoreau und Paganini.
    Wir wußten von Schwindsucht, weil Gammy großes Vergnügen daran hatte, uns mit Grabesstimme vorzulesen, wie der „Herr aller dieser Boten des Todes, die auf ihn zukamen, um ihn fortzuholen, die Schwindsucht war…“ Als Gammy diesen Absatz aus „Mr. Badman“ zum erstenmal las, hatte Mary eine sehr schwere Erkältung, und ich erinnere mich, daß Gammy dabei oft zu ihr hinübersah und sagte: „Armes kleines Ding.“ Wir waren so fest überzeugt, Mary würde die Schwindsucht bekommen, daß Cleve und ich uns darüber in die Haare gerieten, wer ihre Schlittschuhe erben sollte. Als Gammy uns „Kleine Frauen“ vorlas, erklärte sie uns kummervoll, daß die „arme kleine Beth“ wirklich an Schwindsucht gestorben wäre. Sie las uns alle Gedichte von Robert Louis Stevenson vor, verweilte jedoch mit krankhaftem Vergnügen bei „Als ich krank war und zu Bett lag…“ und erzählte uns, daß der „arme kleine Robert Louis Stevenson“ zeitlebens Schwindsucht gehabt hätte und schließlich daran gestorben sei.
    Mary, Cleve und ich hatten unter mancherlei Gefahren das reife, hohe Alter von acht, sechs und fünf Jahren erreicht, als der Aussatz in unser Leben trat. Eines Winter-Nachmittags kündigte Gammy gleich nach dem Essen an, daß sie uns ausführen würde, damit wir uns Charlie Chaplin ansähen. Da dies unser erster Film sein sollte, gerieten wir sofort außer Rand und Band vor Erwartung und paßten kaum auf, als Gammy uns hastig in irgendwelche unserer Kleidungsstücke steckte. Für Gammy waren Kleider nur Hüllen für den Körper, ein Mittel gegen die Sünde der Nacktheit, und was hinten und vorn, was rechts und links und welches die richtige Größe war, war ihr völlig gleichgültig. Kleidungsstücke und Kinder paßte sie mit einem einfachen Verfahren einander an. Sie griff sich von jedem, was ihr am nächsten zur Hand war, und zwang sie zusammen.
    In jenem Winter trugen wir alle dunkelblaue wollene Gamaschenhosen, die vom Knöchel bis hoch über das Knie mit kleinen, glatten, schwarzen, lakritzenähnlichen Knöpfen geschlossen wurden, dunkelblaue Chinchilla-Matrosenmäntel, wollene Fausthandschuhe, sicher miteinander verbunden durch eine lange, gehäkelte Schnur, die eigentlich durch den einen Ärmel hoch-, dann um den Hals und den anderen Ärmel hinunterlaufen sollte, sich aber lieber durch ein Gamaschenbein und von da in einen fremden Mantelärmel oder durch einen Ärmel hoch und in die unergründlichen Tiefen des Futters hinunterzog; dazu trugen wir blanke, schwarze Gummischuhe, die sich unmöglich auseinanderhalten oder an- und ausziehen ließen, aber herrlich auf dem harten, trockenen Schnee quietschten.
    Mary und ich unterschieden uns von Cleve durch breitrandige, dunkelblaue Biberhüte, die Gammy uns noch auf den Kopf drückte, als sie gerade meine Hand in Marys Fausthandschuhe gestupst und uns zur Vordertür hinaus- und in die beißende Winterluft hineingeführt hatte. In unserer Aufregung knirschten wir den halben Häuserblock entlang durch den Schnee, bevor wir merkten, daß Mary Cleves Gamaschenhosen anhatte, die ihr im Schritt so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher