Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
Vom Netzwerk:
Fräulein Aylward.«
    »Wirklich? Wie?«
    »Es sind gerade zwei Missionarinnen aus China zurückgekommen, zwei sehr alte Damen, die nötig jemanden brauchen, der für sie da ist. Sie haben ein Haus in Bristol gemietet. Hätten Sie Lust, den Posten anzunehmen?«
    Wie eisig hatte dieser Vorschlag sie getroffen! Noch in der Erinnerung schmerzte er wie ein Peitschenhieb. Sie hatte die Finger im Schoß gelöst und starrte auf ihre Handflächen. Was für ein trauriges, demütigendes Angebot! Haushälterin für zwei pensionierte Missionarinnen, die zu alt waren, um sich selbst zu versorgen! Sollte ihre Arbeit für China in einem Haus in Bristol enden? Dann war es wirklich besser, sie wurde gleich wieder Stubenmädchen hier in London. Das war für sie kein verlockender Blick in die Zukunft. Sie war eine Frau, und die Welt erwies sich eben doch als eine Welt der Männer. Ein Mädchen von sechsundzwanzig Jahren konnte nichts anderes als schlichte Arbeit erwarten, und wenn es sie nach Arbeit für Gott verlangte, mochte sie in der Sonntagsschule helfen: dieser Dienst käme ihr dann einmal zugute wie eine bescheidene Versicherungspolice, die sie an den Türen des himmlischen Reiches vorweisen konnte. Aber Gladys wußte mit großer Sicherheit, daß der Gott, dem sie Gehorsam schuldete, von ihr mehr verlangte als diese Milch-und-Wasser-Antwort. In jenen harten Jahren damals hielt jeder seine Arbeit fest, wenn er eine gefunden hatte. Gleich von der Schulbank aus war Gladys Hausmädchen geworden; sie hatte dann ein paarmal die Stellung gewechselt, aber die Arbeitslosigkeit drohte noch immer im Hintergrund. Trotzdem war sie fest entschlossen, etwas aus ihrem Leben zu machen.
    Wann ihr der Gedanke zum erstenmal gekommen war, in China ihrem Gott zu dienen, das wußte sie selbst nicht mehr. Vielleicht rührte alles von jenem Abend her, der so langweilig begann. Weil sie sonst nichts Rechtes anzufangen wußte, war sie dem Banner gefolgt, das vor dem Portal der benachbarten Kirche zu einem Abend religiöser Erneuerung einlud. Drinnen hatte ein junger Geistlicher kraftvoll seine kleine Zuhörerschaft aufgerufen, Gott zu dienen. Er hatte auf sie einen starken Eindruck gemacht.
    Als die anderen Mädchen merkten, wohin Gladys’ Neigung ging, hatten sie sie ganz unverblümt für »leicht angeknackt« erklärt. »Sei doch nicht so fad, Glad« protestierten sie, »komm mit ins Kino oder zum Tanzen oder ins Kabarett! Oder wir gehen heute mal zu den netten Jungen, die wir neulich im Park getroffen haben und die uns auf der Serpentine rumrudern wollten.« Aber Gladys wußte, daß sie mehr vom Leben verlangte als das. Sie war einer evangelischen Vereinigung beigetreten; ganz allmählich hatte sich der innere Drang, nach China zu gehen, stärker herausgebildet. Schließlich war sie von der China-Inland-Mission auf Probe angenommen worden.
    Wie schwer war nun die Enttäuschung über ihr Versagen zu ertragen! Sie hatte es damals niemanden merken lassen; aber jetzt, in ihrer Schwäche, liefen ihr bei der bloßen Erinnerung an jenen Tag die Tränen übers Gesicht. Die junge chinesische Pflegerin versuchte sie zu trösten, doch fast so schnell wie die Tränen gekommen waren, brach sie nun in Lachen aus. Es war auch zu witzig, wie alles weitergegangen war. Schon ein paar Monate später arbeitete sie für die »Mitternachtsmission« auf den Swansea-Docks in Südwales. (Ihr Lachen klang bis in den Hof hinaus, und die chinesische Pflegerin sah sie ganz verdutzt an.) Sie hatte diese Aufgabe übernommen, kurz nachdem sie die Stellung bei den beiden alten Missionarinnen in Bristol angetreten hatte. Jetzt war sie Missionsschwester für gefallene Frauen! — obwohl sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren kaum wußte, wie sie »fielen« oder wovor sie errettet werden sollten. Nacht für Nacht machte sie ihre Runden durch das Dockrevier und bemühte sich, junge Frauen von jenem Wege abzuhalten, den man im viktorianischen England für verderblicher hielt als den Tod — worüber aber offensichtlich die Mädchen anderer Meinung waren. Daß sie nur ganze hundertzweiundfünfzig Zentimeter groß war und höchstens neunzig Pfund wog, konnte ihren Mut nicht erschüttern. Betrunkene Matrosen, denen das Bier, die Lieder und der Landurlaub in den Köpfen sausten, hielten sie unter den fleckigen gelben Straßenlaternen häufig für eine Prostituierte und behandelten sie entsprechend. Auch das betrübte sie nie ernstlich, jeder Beruf hatte seine Schattenseiten.
    Junge Mädchen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher