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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
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würde sie ihnen nicht so ohne weiteres verraten... nicht so ohne weiteres verraten... Solche Geheimnisse behielt man in Kriegszeiten besser für sich: wer man war oder woher man kam, das ging niemanden etwas an.
    Dabei fiel ihr der neblige Abend in einem Bergdorf ein und ihr Gespräch mit dem General Ley. Sie sah ihn noch, wie er fortging, hinaus in die Finsternis; der lange schwarze Rock schwang um seine Beine, er warf sich das Gewehr über die Schulter und kehrte zu seinem Trupp gutbewaffneter Partisanen zurück. Sie wußte, daß er katholischer Priester war, aber seinen Namen hatte sie nie erfahren; vielleicht kam er aus Holland, doch das war nur eine Vermutung. Er hatte ihr am Tisch gegenübergesessen, und das gelbe Licht der flackernden Rizinusöllampe warf schwarze Schatten über sein Gesicht; viele Stunden hatten sie über die große Frage gesprochen, die ihre Herzen bedrückte; dann war er fortgegangen über die Berge, um zu... töten!
    Ai-weh-deh, ihr chinesischer Name, genügte doch selbst für den Mandarin, diesen imposanten Mann im scharlachroten gestickten Seidengewand, der in seinem Y amen dort oben zwischen den wilden Bergen von Shansi residierte. Er hatte überhaupt nie nach ihrem Taufnamen gefragt, genausowenig wie Sualan, die Hübsche, mit ihrer hellen Haut und den feinen Händen, die ruhelos wie Schmetterlinge waren; sie, die von Geburt an dazu bestimmt war, eine lächelnde Sklavin der Gefolgsleute des Mandarins zu sein. Chang fiel ihr ein, der buddhistische Priester mit dem kahlgeschorenen Kopf, der noch viele Jahre in dem schmutzigen Gefängnis absitzen mußte, oder der Maultiertreiber, dessen Frau und Kinder sie verbrannt hatten: niemand hatte sie je nach dem Namen aus der alten Heimat gefragt.
    Und Linnan, der Mann, den sie liebte? Nein, auch er hatte sie niemals bei dem Namen genannt, den sie aus England mitgebracht hatte.
    Freundlich überredend drang wieder die Stimme an ihr Ohr. »Sagen Sie uns doch Ihren Namen.« Der sanfte Ton erreichte durch den Strudel der wirren Bilder ihr Bewußtsein. »Haben Sie keine Angst. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben.«
    Angst! Sie hätte ihnen gerne gesagt, wie weit alle Angst hinter ihr lag. Ja, Angst hatte sie gehabt, als sie im Schnee unter den dunklen russischen Fichten schlief. Angst hatte sie gehabt, als der Mann in Wladiwostok versuchte, sich mit ihr in dem Hotelzimmer einzuschließen. Oder damals in dem furchtbaren chinesischen Gefängnis, als der Irre sich mit der Axt gegen sie wandte. Angst, ja — in der Berghöhle, als die Wölfe heulten und in der Dunkelheit ihre grünen Augenlichter sich bewegten. Angst — als die Japaner »halt!« riefen und die Kugeln von den Grabsteinen ringsum abprallten...
    »Wie heißen Sie?« fragte die leise, eindringliche Stimme an ihrem Ohr. »Wie heißen Sie? Wo kommen Sie her?«
    Was für eine dumme Frage! Sicherlich wußten sie, daß sie Gladys Aylward hieß. Daß sie in Edmonton geboren war. Bestimmt hatten sie schon von Edmonton gehört, es gehörte ja zu Nordlondon, damals lag es noch am Rande der Felder; erst später hatten der graue Zement, die roten Häuserwände, der Ruß der Londoner City es verschlungen. Die Aylwards waren in die Cheddingtonstraße eingezogen, als Gladys noch ganz klein war. Eine Häuserreihe aus rotem Backstein, weißen Gardinen, Ligusterhecken, Geranien in den Fenstern. Graues Pflaster. Jeden Morgen die Scherze der vergnügten Milchmänner, Bäcker und Gemüsehändler, die mit ihren kleinen Pferdewagen durch die Straßen klapperten. Eine glückliche Kindheit! Wenn sie des Vaters feste Postbotenschuhe auf der Straße hörte, dann lief sie ihm entgegen: er gefiel ihr in seiner dunklen Uniform mit den roten Schnüren. Mutter machte Tee in der Küche, und sie und Violet tobten um das Haus mit den anderen Kindern.
    Als im ersten Weltkrieg die Zeppeline über den Kanal kamen und Bomben auf London warfen, hatte sie zum erstenmal das Mittel gegen die Angst erprobt. Sie rief alle Kinder von der Straße in die Diele herein und setzte sie an der Wand entlang. Dann klappte sie das alte kleine Harmonium mit dem Fußantrieb auf, bearbeitete wie wild die Pedale und sang dazu, so laut sie nur konnte, einen Choral.
    Alle sangen mit — je höher, desto besser! Es schien fast, als stiege mit der Tonlage auch ihre kindliche Zuversicht, daß nun das unheimliche Brummen der Silberzigarren über sie hinwegziehen würde, ohne ihnen ein Leid anzutun. Ein gutes rüstiges Kirchenlied stärkte die Moral —
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