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Eine Katze im Wolfspelz

Eine Katze im Wolfspelz

Titel: Eine Katze im Wolfspelz
Autoren: Lydia Adamson
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dieser Zeit mehrfach Patient in psychiatrischen Anstalten gewesen ist. Sie alle wissen, wie das normalerweise läuft: Vorfall, Einlieferung, Medikation, Stabilisierung, Entlassung, Rückfall. Ich halte den Täter für einen paranoiden Schizophrenen.«
    Er unterbrach seinen Vortrag und ging um das Pult herum. Mir fiel auf, daß er sich bewegte wie ein Schauspieler. Dann fuhr er fort.
    »Und warum können wir so sicher sein, daß wir es mit einem Psychopathen zu tun haben? Dafür gibt es zwei sehr triftige Gründe. Da ist einmal die Tatsache, daß bisher niemand ein vernünftiges Tatmotiv nennen konnte. Offenbar gibt es keine logische Erklärung dafür, daß all diese Menschen sterben mußten. Es scheint sich um eine ganz zufällige Wahl der Opfer zu handeln. Und das ist der sicherste Hinweis auf eine psychotische Persönlichkeitsstruktur.
    Der zweite Grund ist aber noch wichtiger: Meiner Ansicht nach würde nur ein Psychopath versuchen, die Polizei an der Nase herumzuführen, indem er bei jeder Tat eine andere Mordwaffe benutzt, gleichzeitig aber jedesmal ein mehr oder weniger identisches Objekt am Tatort zurückläßt - eine Spielzeugmaus.«
    Danach hob er seine Hände und lächelte. »Das ist alles, was ich sagen kann. Haben Sie Fragen?«
    Es gab eine Menge Fragen. Aber die interessierten mich überhaupt nicht. Meine Augen wanderten wieder zu den Fotos der Opfer, die, wie mir jetzt auffiel, in der Reihenfolge ihres Ablebens aufgehängt waren. Das erste Opfer zuerst, das letzte Opfer zuletzt.
    Ich dachte darüber nach, welches Foto von mir sie wohl genommen hätten, wenn ich eines der Opfer gewesen wäre. Offensichtlich hatten sie immer private Schnappschüsse ausgewählt und vergrößert und wahrscheinlich auch versucht, ein möglichst aktuelles Foto jedes Opfers zu finden. Vielleicht war es das, was die ganze Galerie so unheimlich machte. Es war, als würde man ein Privatvideo über den Tod anschauen - ein Video, das erst letzte Nacht gedreht worden ist. Na gut, für mich gab es da oben keinen Platz - seit Ewigkeiten hatte niemand einen Schnappschuß von mir gemacht.
    »Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?« fragte Arcenaux. Dann fügte er hinzu: »Diese Typen werden Jassy vermutlich noch ungefähr fünf Stunden mit Fragen löchern. Auf diese Art erschleichen sie sich eine kostenlose Kurztherapie.«
    Wir schlüpften aus dem Raum und verließen das höhlenartige Tiefgeschoß. Der Tag war warm genug, um den Kaffee draußen zu trinken. An einem der Stände, die auf dem Bürgersteig vor dem Park, der an das Gerichtsgebäude angrenzt, aufgereiht waren, kauften wir ein paar Doughnuts.
    »Und wie finden Sie es?« fragte Arcenaux.
    »Wie finde ich was?«
    »Retro. Was halten Sie von dem, was Sie gehört haben?«
    »Ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll. Ich bin immer noch ein bißchen erschlagen, ein bißchen eingeschüchtert.«
    »Ich habe gesehen, wie Sie die Fotos betrachtet haben«, sagte er und tunkte seinen Doughnut in den Kaffee. Was für eine altmodische Art, einen Doughnut zu essen. Plötzlich fühlte ich mich ihm viel näher.
    »Haben sie jemals Die allertraurigste Geschichte gelesen, den Roman von Ford Madox Ford?« fragte ich ihn.
    »Nein.«
    »Der erste Satz lautet: ›Dies ist die allertraurigste Geschichte, die jemals erzählt wurde.‹ Daran habe ich denken müssen, als ich die Fotos anschaute. Das ist alles so traurig ... so unbegreiflich traurig.«
    »Sie werden niemals ein guter Cop werden«, erwiderte Arcenaux.
    »Ich habe auch nicht die geringste Absicht.«
    »Traurig? Was zum Teufel heißt schon traurig? Jetzt hören Sie sich aber wirklich an wie eine Schauspielerin.«
    »Ich bin Schauspielerin«, gab ich zurück.
    Er nickte einmal heftig und goß den Rest seines Kaffees auf die Straße. »Das einzig Traurige in meinem Leben ist, daß meine Speditionsfirma den Bach runtergegangen ist. Mit dem Laster von A nach B zu fahren war für mich das Größte. Aber das ist eine andere Art von Traurigkeit, oder?« Er verzog das Gesicht. »Kommt, wir gehen wieder rein.«

5
    Es war halb sieben am Morgen. Ich saß an meinem Küchentisch und schlürfte eine halbe Tasse Nescafe, schwarz mit Zucker, und schaute hinauf zu Pancho. Im Moment ruhte er sich auf meinem hohen Küchenschrank von einer seiner verrückten Hetzjagden durch imaginäre Feinde aus. Da kauerte er und sah auf mich herab, und mit seinen rostfarbenen Schnurrhaaren, den gelben Augen und seinem vernarbten grauen Fell wirkte er fast wie ein
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