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Eine eigene Frau

Eine eigene Frau

Titel: Eine eigene Frau
Autoren: L Lander
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irgendwoher weht teeriger Rauchgeruch heran. Herman seufzt.
    »Es ist ein ewiges Disputieren, wenn man Mädchen hat.«
    Stumm stampft Saida mit dem Fuß auf. Der Vater schnaubt verärgert, murmelt matt etwas über das eitle Getue der Frauenzimmer und über die Folgen eines solchen Spiels. Saida sollte eigentlich wissen, was die Bibel dazu sagt: »Warum liebt ihr den Schein und sinnt auf Lügen? Wie lange noch schmäht ihr meine Ehre?«
    Saida hat die Arme um die zerkratzten Beine geschlungen. Sie leckt über den Schorf an ihrem Knie. Auf der Haut verwandelt sich die Meeresluft in Feuchtigkeit. Das Holzgitter am Fuß der Treppe ist über und über mit Tautropfen überzogen. Das Kind versteht nicht annähernd, was der Vater meint, sieht aber, dass er von einer überraschenden Hilflosigkeit erfüllt ist. Das weckt Saidas Mitleid. Am liebsten würde sie ihren Vater vom Schmerz längerer Erklärungen erlösen, aber sie bleibt wie angewurzelt sitzen.
    Flüchtig treffen sich ihre Blicke.
    »Lass uns jetzt schlafen gehen«, sagt Herman fast flehend und steht in seinem rot karierten Flanellhemd und der Hose, die an den Knien ausgebeult ist, auf. Er deutet auf die Tür, steif wie ein Küster, dessen Aufgabe darin besteht, den Trauergästen den Weg zu weisen, obwohl sie ihn selbst sehr gut kennen.

Vartsala, 12. April 2009
    Die Fichten stehen wie Soldaten in geraden Reihen. Ihre untersten Äste auf der Höhe meiner Augen sind braun, so wie auch die Erde darunter braun ist. Dort wächst nichts. Der Boden ist ganz und gar mit braunen Nadeln übersät. Zwischen ihnen bewegt sich eine Kolonne Ameisen. Ich befürchte, dass sie mir in die Sandalen krabbeln. Großvater nimmt mich auf die Schultern. Sein warmes, graues Haar riecht nach Teershampoo. Er hat versprochen, mir den Steinbruch zu zeigen, aus dem die schwarzen Platten im Hof stammen. Ich verstehe nicht, wie Steine aus dem Steinbruch kommen.
    Wir treten aus dem Fichtenwald auf einen vergrasten Weg. Er führt zu einer großen offenen Lichtung, auf der rote Blumen wachsen. Etwas Weißes staubt von den Blumenkronen auf und fliegt im Wind davon. Mamu sagt, das werden einmal Engel. Großvater setzt mich ab. Vor mir liegt eine große, schwarze Steinplatte, genau so eine wie im Hof von Großvater und Mamu, aber viel größer, so groß wie der ganze Fußboden in der Wohnstube. Ich lege die Hand auf den Stein. Er ist heiß.
    Derselbe Stein war nun eiskalt. Eine dünne Humusschicht, entstanden aus Streu und Laub, bedeckte die Mineraloberfläche, Wurzelgeflechte von Weidenröschen und Birken hielten die Bodendecke zusammen. Der Steinbruch wirkte viel kleiner als in Kindertagen, aber das Weidenröschen war noch immer die dominierende Pflanze. Wintersteher mit braunen Blättern ragten aus der Erde wie die Spitzen eines im Gebrauch schütter gewordenen Reisigbesens. Birken von mehreren Metern Höhe wuchsen nur spärlich, viele von ihnen waren umgestürzt und befanden sich in verschiedenen Stadien des Vermorschens. Der dünnen Humusschicht fehlte die Kraft, Bäume von mehr als doppelter Mannshöhe zu nähren. Beim Umstürzen der Bäume waren mit dem Wurzelwerk große Humuslappen herausgerissen worden, und an diesen Stellen fand ich, was ich suchte: Überall dort, wo die Erde in Flächen so groß wie Lastwagenreifen aufgerissen war, leuchtete der dunkelgraue, leicht silbrig schimmernde Phyllit hervor.
    Hier und da sah man zerbröckelten Schiefer. Großvater nannte die kleinen flachen Steine »Klimbim«. Wir füllten zusammen eine Tasche damit. Auf dem Weg zum Meeresufer zeigte mir der Großvater, dass es in diesem Dorf fast in jedem Hof und Garten Wege und Terrassen aus ebendiesem schwarzen Schiefer gab. Die fleißigsten Dorfbewohner hatten zur Verzierung sogar Schiefersteine auf die Sockel ihrer Häuser gemauert.
    An einer Stelle, die der Großvater als »Verladehof« bezeichnete, warfen wir die Hüpfsteine ins Meer. Aber nicht alle ins Wasser werfen, riet er mir, mit denen kann man alles Mögliche bauen.
    Bevor ich den Entschluss zum Umzug fasste, hatte ich auf speziellen Karten die Mineralvorkommen untersucht und festgestellt, dass sie mit geologischen Begriffen genau das zum Ausdruck brachten, was mir mein Großvater seinerzeit gesagt hatte: Hier verläuft ein Gürtel metamorphen Gesteins. Druck und Hitze der Erde haben Tonschiefer entstehen lassen, der sich stellenweise an die Oberfläche schiebt, sodass die Leute aus der Gegend ihn zu allen Zeiten als Baumaterial abgebaut haben.
    Mein
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