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Eindeutig Liebe - Roman

Eindeutig Liebe - Roman

Titel: Eindeutig Liebe - Roman
Autoren: Jessica Thompson
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Holzboden. Mein Pony stand in die Luft wie ein Handymast.
    Der weiche Kokon, in dem sie gelegen hatte, wich einem kühlen Luftzug und dem dringenden Bedürfnis zu pinkeln. Wie ein Zombie trottete ich ins Bad und versuchte im Halbdunkel, etwas zu erkennen.
    Nach ein paar Minuten »Morgentoilette« – zu der es gehört, dass ich mit einer abgewetzten Zahnbürste in meinem Mund herumstochere und versuche, meinen zerzausten Haaren mit einem Kamm beizukommen – fühlte ich mich schließlich bereit für die Dusche.
    Von wegen.
    Nur kaltes Wasser.
    Es fühlte sich an, als hätte jemand während der Nacht den Eisregen in einem rostigen Eimer gesammelt und ihn nun über mir ausgekippt.
    Ich riss meine Augen auf – zum ersten Mal seit dem Aufwachen waren sie nun wirklich offen –, und meine Pupillen schrumpften auf Stecknadelkopfgröße, während ich gegen den Schock ankämpfte. In dem verzweifelten Versuch, den unerbittlichen Geschossen auszuweichen, sprang ich umher und wartete auf heißes Wasser, aber die kalten Tropfen prasselten weiter gnadenlos auf mich herunter.
    Dann folgte auch schon die nächste Herausforderung: Irgendwie musste ich die laubbedeckten Straßen meines Westlondoner Außenbezirks durchqueren und den Zug zur Arbeit erwischen. Doch trotz des Schockerlebnisses unter der Dusche hatte ich noch immer Schleier vor den Augen, und das Pflaster schien sich vor mir auszubreiten wie ein Schachbrett.
    Zur Rushhour in London herumzulaufen ist wie ein Jump-and-run-Spiel. Bewertet wird in etwa folgendermaßen:
     5 Punkte, wenn man nicht in die große Pfütze tritt, die sich immer an der tiefsten Stelle der Edgley Road bildet.
    15 Punkte, wenn man erfolgreich das den Gehsteig blockierende ältere Ehepaar überholt, ohne gegen einen Laternenpfahl zu laufen.
    10 Punkte, wenn man den Schnorrern entkommt, die sich vor dem Bahnhof auf einen stürzen und einem unbeschreibliche Schuldgefühle einjagen, weil man ihnen auszuweichen versucht.
    15 Punkte, wenn man das letzte Päckchen Orangensaft im Bahnhofsladen ergattert.
    20 Punkte, wenn man noch eine Gratiszeitung bekommt, bevor die »Nimm-dir-eine-Zeitung-und-schmeiß-sie-zehn-Minuten-später-wieder-weg«-Pendler sie einem gierig vor der Nase wegschnappen.
    Die nächste Prüfung bestand darin, mir im Zug einen Sitzplatz zu erkämpfen. Wenn man es richtig anstellt, steht einem eine halbwegs bequeme Fahrt bevor. Vermasselt man es aber, verbringt man zwanzig Minuten mit dem Gesicht gegen eine der bruchfesten Fensterscheiben gedrückt und einem Gehstock zwischen den Hinterbacken.
    Eine Minute nachdem ich auf dem Bahnsteig angekommen war, fuhr der Zug ein. Ich wand mich durch die Menschenmenge – links, rechts, links, rechts –, und schaffte es.
    Doch jetzt, wo ich vor diesem Sinnbild der Liebe sitze, das mich so richtig runterzieht, weil es mir den Kontrast zu meiner eigenen häuslichen Situation vor Augen führt, begreife ich, dass ich heute nicht gerade in allerbester Stimmung bin.
    Oh nein! Als Tom eine von Claires Haarsträhnen zur Seite schiebt und sanft ihr rechtes Ohr küsst, muss ich wegsehen, sonst verliere ich noch den Verstand. Um das Geturtel nicht mit ansehen zu müssen, schaue ich nach links, aber dadurch sehe ich direkt in die Augen eines Mannes, der neben mir sitzt und mich zufällig genau in diesem Moment anstarrt.
    Er muss schon über fünfzig sein, ein magerer Kerl mit stechenden Augen und einer Brille, deren Gläser so dick sind, dass ich bei ihrem Anblick unwillkürlich an die Böden von Milchflaschen denken muss.
    Als er begreift, dass ich ihn beim Starren erwischt habe, lächelt er verlegen. Und weil ich mich selbst gern für einen relativ netten Menschen halte, erwidere ich das Lächeln, als wollte ich sagen: Wissen Sie was? Es ist okay. Vergessen wir es einfach, und dann ist es gut.
    Anschließend wende ich mich ab und gucke zur Decke hinauf – das ist heute offensichtlich das Sicherste. Trotzdem merke ich, da ist wieder was; aus dem Augenwinkel heraus nehme ich etwas wahr. Als ich den Kopf drehe, sehe ich, dass der Kerl mich schon wieder anstarrt, fast durchbohrt sein Blick meine Wange. Das ist ganz sicher kein beiläufiges Hinsehen mehr! Er zuckt zusammen, als wäre er dabei erwischt worden, wie er im Supermarkt Weintrauben nascht.
    »Äh, es tut mir sehr leid. Es ist nur, Sie sind so schö …«
    »Lassen Sie es einfach sein, ja? Bitte«, sage ich und werde rot.
    »Ja, selbstverständlich. Verzeihen Sie«, antwortet er mit einem vornehmen Akzent
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