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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land
Autoren: Sherko Fatah
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Plötzlich fühlte ich mich schwach und niedergeschlagen. Alle Anspannung der letzten Stunden löste sich. Ich stand auf und wandte mich ab. Halbnackt wie der Mann im Fenster gegenüber verharrte ich kurz und stieg dann wieder hinab.

2.
    A n den folgenden Tagen setzte ich mich nicht mehr auf den
Stuhl im Krankenhaussaal. Ich ging nur kurz hinein und sagte jemandem vom Personal, dass ich da sei. Dann wartete ich auf dem staubigen Platz vor dem Krankenhaus darauf, dass man mich rief.
    Ich saß neben dem Eingang unter dem Vordach im Schatten und warf Kieselsteine in den Sand. Als Bote war ich an Wartezeiten gewöhnt, und der Ort vor dem Krankenhaus schien mir nicht der schlechteste zu sein. Manchmal hatte ich mitten auf der Straße im Menschengewimmel stundenlang warten und noch dazu achtgeben müssen, meinen Auftraggeber nicht zu übersehen, wenn er aus dem Haus kam. Hier dagegen war es ruhig, ich konnte meinen Gedanken nachhängen. Mich quälte nur, dass sie alle um diesen Arzt kreisten. Je mehr ich darüber nachgrübelte, umso dringender wurde mein Bedürfnis nach Gewissheit. Ich musste wissen, ob ich mich in diesem Mann irrte. Ich wischte mir über die Stirn und staubte das alte Jackett ab. Unruhe erfasste mich. Mein mühsam erlangter Frieden war dahin, ich fühlte mich wieder wie damals in der eisigen Weite, betäubt vom Schnaps , wie sie sagten, und von der ständigen Angst.
    An einem dieser langen Tage ertönten von der Straße her Motorengeräusche und laute Stimmen. Aufgeschreckt wich ich zurück. Das Tor wurde geöffnet und herein fuhr ein von hellbraunem Sand bedeckter Lastwagen. Daneben liefen schreiend Frauen und Kinder. Plötzlich war der Hof von Lärm erfüllt. Der Lastwagen hielt vor dem Eingang des Krankenhauses, Fahrer und Beifahrer stiegen aus und bahnten sich einen Weg durch die Menge. Es dauerte eine Weile, bis sie, denen die Kinder vor die Beine stolperten und die Frauen an den Kleidern rissen, die Rückseite des Lastwagens erreicht hatten und die Ladeklappe öffnen konnten.
    Ich ging näher heran und fragte eine der Frauen, was geschehen sei. Bei den Straßenbauarbeiten draußen vor der Stadt hatte es einen Unfall gegeben. Gleich vier Männer waren, als sie am Straßenrand saßen und Pause machten, von einem Laster überfahren worden. Der Fahrer hatte für einen Moment nicht achtgegeben, war den Männern über die Beine gefahren und hatte die Knochen zermalmt.
    Kaum war die Ladeklappe offen, verstärkte sich das Geschrei um ein Vielfaches. Nun waren auch die Schmerzenslaute der Opfer zu hören. Der Arzt kam herbeigelaufen, dicht gefolgt von anderen, jüngeren Doktoren, die ich noch nie gesehen hatte. Ich zog mich wieder zurück, ohne dabei den Arzt aus den Augen zu lassen. Gleich fiel mir das leichte Zittern auf, nur sichtbar, wenn er sich rasch bewegte. Er könnte es sein, dachte ich unwillkürlich.
    Um besser zu sehen, lief ich in weitem Bogen um den Lastwagen herum. Die vier Verletzten jammerten und schrien abwechselnd, Blut lief in einem fadendünnen Rinnsal von der Ladefläche und tropfte in den Sand. Der Arzt hatte Mühe, den Lärm der Menge zu übertönen, wenn er seine Anweisungen gab. Inzwischen waren Tragen herangeschafft worden, und der Doktor befahl den jüngeren Männern, auf die Ladefläche zu klettern und die Verletzten herunterzuheben. Jedes einzelne der Opfer brüllte auf, wenn es angehoben und, schräg in der Luft hängend, in die von unten her ausgestreckten Hände vor dem Laster übergeben wurde. Die Beine der Schwerverletzten baumelten grotesk aus ihren Rümpfen. An den Körpern der Männer war kaum Blut zu sehen. Mir schien es, als wollten die Leute, ihre Münder mit den Händen bedeckend, die Schmerzensschreie der Männer verstummen lassen.
    Die Frauen der Verletzten warfen sich über die Tragen und wurden von den wild gestikulierenden Helfern fortgezogen. Als ich sah, wie diese Frauen Rotz und Tränen in die Enden ihrer Kopftücher wischten, als ich in ihre verquollenen Gesichter blickte, taumelte ich in sichere Entfernung zurück. Ich atmete durch den Mund und fühlte mein Herz schlagen.
    Das letzte der Opfer wurde so unglücklich abgelegt, dass seine Beine leblos an der Seite schlenkerten, als man die Trage anhob. Die Schmerzen mussten unerträglich sein, der Doktor sprang geistesgegenwärtig herbei. Ich beobachtete, wie er den Verletzten sicher positionierte und die Träger dann weiterschickte. Einen Augenblick lang blickte er seinem Patienten nach, betrachtete den
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