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Ein toedlicher Plan

Titel: Ein toedlicher Plan
Autoren: Jeffrey Deaver
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Meter dreiundsiebzig. Dabei waren es gerade mal einssiebzig. Aber sie hatte dichtes schwarzes Haar, und wenn sie das toupierte, kam sie leicht auf die angegebene Größe. Früher hatte ein Freund ihr einmal gesagt, mit ihrem gekräuselten und lose herabhängenden Haar passe sie in ein Gemälde der Präraffaeliten.
    So sah sich Taylor allerdings überhaupt nicht. An guten Tagen glaubte sie eine Ähnlichkeit mit der jungen Mary Pickford zu haben. An den anderen Tagen kam sie sich wie ein dreißigjähriges kleines Mädchen vor, das mit nach innen gestellten Füßen dastand und ungeduldig darauf wartete, dass Reife, Entschlusskraft und Autorität endlich auch den Weg zu ihr fänden. (Es geschah sogar heute noch, dass sie Ich bin erwachsen! Ich bin erwachsen! zu sich sagte und dabei richtige Tränen vergoss.) Taylor mochte ihr Spiegelbild am liebsten in Behelfsspiegeln wie zum Beispiel schwarzen Schaufensterscheiben.
    Oder in den Fenstern von Anwaltskanzleien in der Wall Street. Sie wandte sich ab und kehrte zu ihrem Drehstuhl zurück. Es war jetzt kurz vor neun Uhr, und die Kanzlei erwachte überall zum Leben. Die anderen Mitarbeiter trafen ein. Grüße – oder Warnungen vor anstehenden Krisen – wurden kreuz und quer durch die Halsted Street gerufen, Erlebnisse in der U-Bahn oder im Verkehrsstau ausgetauscht. Taylor saß an ihrem Schreibtisch und dachte darüber nach, wie abrupt sich der Verlauf eines Lebens verändern konnte – und das aus der Laune eines anderen heraus. Doch diese gewichtigen Betrachtungen vergingen ebenso rasch, wie sie gekommen waren, und Taylor stand auf, um sich ein Pflaster für den Finger zu besorgen.
    An einem warmen Aprilmorgen des Jahres 1887 betrat ein zweiunddreißigjähriger Anwalt namens Frederick Phyle Hubbard, dessen mächtige Koteletten in auffälligem Kontrast zur Lichtung seines Haupthaars standen, ein kleines Büro auf dem Lower Broadway, hängte seinen Seidenhut und Prinz-Albert-Mantel an den Garderobenhaken und sagte zu seinem Partner: »Guten Morgen, Mr. White. Haben Sie schon irgendwelche Klienten?«
    So begann das Leben einer Anwaltskanzlei.
    Sowohl Hubbard als auch C. T. White hatten an der juristischen Fakultät der University of Columbia ihr Examen gemacht und waren sofort dem wachsamen Auge des ehrenwerten Walter Carter, Esquire, einem der Seniorpartner von Carter, Hughes & Cravath, aufgefallen. Er nahm die beiden für ein Jahr auf Probe in die Kanzlei auf, und in dieser Zeit erhielten sie, wie damals üblich, keinen Cent Lohn. Nach Ablauf der Frist stellte Carter Hubbard und White fest ein und zahlte ihnen ein laufendes Gehalt von nicht unbeträchtlichen zwanzig Dollar im Monat.
    Sechs Jahre später liehen sich die beiden – sie waren jetzt so ambitioniert, wie Carter sie in weiser Voraussicht geformt hatte – von Whites Vater dreitausend Dollar, stellten einen Assistenten und einen Sekretär (zu jener Zeit üblicherweise ein Mann) ein und eröffneten ihre eigene Kanzlei.
    Obwohl Hubbard und White von Büroräumen im Equitable Building am Broadway Nr. 120 träumten, gaben sie sich am Anfang mit weniger zufrieden. Die Miete in dem alten Gebäude nahe der Trinity Church, für das sie sich schließlich entschieden, betrug vierundsechzig Dollar im Monat, und dafür erhielten die beiden aufstrebenden Anwälte zwei dunkle Räume. Allerdings verfügte ihr Büro über eine Zentralheizung (auch wenn sie im Januar und Februar die beiden darin befindlichen Öfen zu benutzen pflegten) und einen Fahrstuhl, der mittels eines Stricks bedient wurde, welcher mitten durch die Kabine verlief. Auf den Böden lagen gobelinartige Teppiche, die Hubbards Frau zurechtgeschnitten und bestickt hatte. Die bereits vorhandenen Filzbeläge waren für Hubbards Geschmack nicht elegant genug, und er fürchtete, sie könnten »mögliche Klienten eher abschrecken«.
    Und das Büro besaß noch weitere Vorzüge. Beim Mittagessen im Delmonico’s auf der Fifth Avenue, wo Hubbard und White den Großteil ihrer ersten Einnahmen ließen, um bereits existierende wie mögliche Klienten mit einem Mahl bei Laune zu halten, konnten die beiden mit der neuen Druckpresse ihrer Firma prahlen; dieses Gerät stellte vermittels eines feuchten Tuchs Kopien von der Geschäftskorrespondenz her. Die Anwälte hatten sich auch einen Telefonapparat vorführen lassen, sich dann aber gegen einen Erwerb desselben entschieden. Die Mietgebühr betrug zehn Dollar im Monat, doch davon abgesehen, gab es bis auf Gerichtsbedienstete oder
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