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Ein Jahr ohne Juli (German Edition)

Ein Jahr ohne Juli (German Edition)

Titel: Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Autoren: Liz Kessler
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das klingt langweilig, ich finde das aber nicht. In Museen komme ich irgendwie immer auf Ideen, und meine Phantasie geht mit mir durch. Die ganzen seltsamen Dinge und fremdartigen Kunstgegenstände lassen mich an die vielen Menschen denken, die vor mir gelebt und sie benutzt haben, und ich stelle mir vor, wie ihr Leben wohl war.
    Und Dad schleppt uns hier im Urlaub immer auf mindestens zwei Mammutwanderungen. Das ist sein Ding, wandern. Das und schreiben. Er ist – also, er würde sich als Schriftsteller bezeichnen, aber das kommt nur daher, weil er zu einem Kurs für kreatives Schreiben gegangen ist und die Lehrerin zu allen gesagt hat, dass sie sich Schriftsteller nennen sollten. Sie sagt, das sei der erste Schritt. Ich persönlich hätte ja angenommen, der erste Schritt sei, loszuschreiben. Aber das ist nur meine Meinung.
    Eigentlich ist mein Dad Mathelehrer. Stellvertretender Fachbereichsleiter für Mathe an derselben Schule, auf die ich gehe! Ist das nicht ätzend ? Aber die siebte Klasse war eigentlich gar nicht so schlecht. Ich hatte ihn nicht in Mathe, und solange er nicht in meiner Klasse unterrichtet, macht es mir nicht sooo viel aus. Mum ist in der Studentenberatung an der Universität in der Stadt. Sie redet nicht viel über ihre Arbeit, sie muss die Gespräche nämlich praktisch wie Staatsgeheimnisse behandeln.

    Dad und ich gehen am Fluss entlang. Ein riesiger Schwan und zwei flauschige braune Schwanküken schwimmen im Wasser und werden seitwärts von der starken Strömung abgetrieben.
    »Der Fluss ist randvoll«, sagt Dad und schlenkert meinen Arm beim Laufen hin und her.
    »Hat’s wohl eilig«, sage ich.
    Dad rückt etwas von mir ab und starrt mich kurz an. »Das ist gut«, sagt er. »Das gefällt mir.« Dann holt er seinen Notizblock heraus und schreibt auf, was ich gesagt habe. In Dads Gegenwart muss man aufpassen. Wenn er in einer seiner kreativen Phasen ist, kann es sein, dass er fast alles notiert, was man von sich gibt, um es für den Augenblick aufzuheben, wenn er seinen Erfolgsroman schreibt.
    Roman ist gut gesagt. Wenn wir ehrlich sind, handelt es sich eigentlich nur um eine Kladde, die er seit Jahren hat, vollgestopft mit Papierschnipseln, abgerissenen Klappen von Zigarettenschachteln und Servietten, auf die er winzige Ideenfetzen kritzelt oder auch mal die eine oder andere Gedichtzeile.
    Er sagt, das mache den wahren Schriftsteller aus, die Tatsache, dass er dieses Notizbuch immer dabeihat. Ich habe schon tausend Mal versucht, ihm klarzumachen, dass erst ein Roman einen wahren Schriftsteller ausmacht, aber immer wenn ich das sage, schließt er nur die Augen und lächelt auf so eine Art in sich hinein, als wisse nur er über das wahre Leben Bescheid, und ich würde es schon noch verstehen, wenn ich älter sei.
    Ich schreibe auch ein bisschen, aber nur in mein Tagebuch. Noch nie hab ich es jemandem gezeigt. Eher würde ich sterben. Allerdings lese ich Juli manchmal ein bisschen daraus vor. Sie weist mich immer auf verborgene Bedeutungen hinter meinem Geschreibsel hin. Selbst irgendwelche Kleinigkeiten sollen angeblich etwas über mich aussagen, was mir selbst beim Schreiben gar nicht klar gewesen ist. Juli lässt mich viel interessanter erscheinen, als ich in Wirklichkeit bin!
    Sie selbst schreibt nicht Tagebuch. Sie hat nicht genug Geduld für so etwas. Alles, was sie tut, hat mit Bewegung zu tun, am liebsten draußen, sogar, wenn es regnet. Sie hält Stillsitzen nicht aus. Mit ihrem Vater geht sie Felsenklettern, und sie besucht so einen komischen Tanzkurs, den eine Freundin ihrer Mutter leitet. Sie hat versucht, mich auch dazu zu überreden, aber ich kann nicht tanzen. Ich hab’s ausprobiert, aber ich bin wie blockiert. Ich werde so steif, als ob ich in einer Ritterrüstung stecken würde.
    Ihr fragt euch vielleicht, was uns verbindet. Das tue ich auch manchmal. Aber es ist, als ob wir zwei verschiedene Hälften eines Ganzen sind oder so. Ich kann über absolut alles mit ihr reden, und umgekehrt auch. Keine von uns langweilt die andere. Wir müssen alles teilen – bis ins letzte Detail.

    Dad und ich stehen da und sehen zu, wie das Wasser schäumt und braust und sich unter der Brücke hindurchdrängt. Ein paar Jungs in Turnschuhen und Shorts klettern auf die Brüstung, um in das strudelnde Wasser zu springen.
    »Eines sag ich dir«, meint Dad kopfschüttelnd, als der erste Junge mit lautem Gejohle ins Wasser abtaucht, »wenn einer von euch Kindern auch nur daran denkt, so etwas zu
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