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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon
Autoren: Sylvia Roth
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verbunden ist, schwimmen die Portugiesen höchst ungern, viele Angehörige der älteren Generation haben es auch nie gelernt, mehr als einmal beobachte ich berührende Szenen, wie etwa eine junge Frau einer alten Dame das Schwimmen beibringt. Schwimmbäder, so lerne ich, sind auch weniger zum Schwimmen da als vielmehr zur Aquagymnastik – daher die geringe Wassertiefe. Folgerichtig begrüßt mich in der Umkleidekabine eine Gruppe fröhlich lärmender Hausfrauen, die sich mit dem Schlachtruf „Vamos trabalhar – Lasst uns arbeiten!“ in die brühwarmen Fluten stürzen, um unter der Anleitung des Bademeisters, eines Kolosses mit T-Shirt-Aufdruck „Nadador Salvador“ (was eigentlich „Rettungsschwimmer“ heißt, mich aber dazu verführt, ihn „Schwimmer Salvador“ zu nennen), ihre Muskeln zu trainieren und sie so für die Berge Lissabons zu stählen. Michael Jackson und ABBA helfen, Busen und Wasser in Wallung zu bringen, und während ich beginne, daneben meine Bahnen zu ziehen, kann ich staunendbeobachten, wie sich die sorgsam unter Badehauben verborgenen Köpfe zu immer neuen Formationen gruppieren. Mal heben sich die Arme grazil aus dem Wasser, mal tauchen sie wieder unter, mal neigen sich die Schultern nach links, mal zeigt sich kess ein Fuß. Wie das Papier im Proust’schen Wasserglas entfalten sich Choreografien von einer solchen Eleganz, dass ich die Damen „as sereias de Lisboa – die Wassernixen von Lissabon“ taufe.
    Doch nun kommt Nadador Salvador zu mir, und während ich mich noch frage, ob er mich vielleicht einladen will, an der Vorführung teilzuhaben, hat er nur einen Satz für mich übrig, den er aber drei Mal wiederholen und mit vehementer Zeichensprache untermalen muss, bis ich ihn sowohl sprachlich als auch inhaltlich verstanden habe: Es sei hier nicht erlaubt, im Bikini zu schwimmen, beim nächsten Mal müsse ich einen ganzteiligen Badeanzug tragen.
    Wie in einer geheimen choreografischen Verabredung drehen sich die Köpfe der Sereias de Lisboa synchron zu mir. 21 . Jahrhundert. Punkt. Europa. Punkt. Und ich darf nicht im Bikini schwimmen – Fragezeichen! Warum? Entspricht mein blau-weiß gestreifter Zweiteiler nicht den ästhetischen Anforderungen? Habe ich gegen hygienische, kulturelle oder religiöse Vorschriften verstoßen? Handelt es sich um eine Intrige, um Schikane, um Wichtigtuerei? Noch sind meine Portugiesischkenntnisse zu rudimentär, um eine Diskussion mit Nadador Salvador zu eröffnen. Ganz sicher ist mit ihm auch nicht zu spaßen, denn wer den Matador im Namen trägt und täglich Heerscharen von Seniorinnen in Bewegung versetzt, muss sich nicht unter Wert verkaufen. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich dem Gesetz zu beugen. Doch ich möchte es auf besondere Weise tun – und so, dass es den Eigentümlichkeiten der Stadt angemessen ist. Deshalb kaufe ich meinen Badeanzug nicht etwa imSportgeschäft, sondern in der Baixa, Lissabons Unterstadt, in der sich ein altertümlicher Laden an den anderen reiht und nicht nur die Gebäude, sondern auch die in ihnen ausgestellten Waren unter Denkmalschutz zu stehen scheinen. Der eine Ladenbesitzer verkauft Knöpfe und Fadenrollen, der andere Strickwaren und Wolle, der nächste altmodische Kittelschürzen, Morgenmäntel – und immerhin drei Badeanzüge. Unmittelbar sticht mir ein Prachtstück für die Frau ab siebzig ins Auge, mit halblangem Bein und integriertem Spitzbusen-BH, floral in geschmackvollem Braun-Orange gemustert, dezent und glamourös zugleich mit feinen Goldfäden durchwirkt. Die Patina wird kostenlos mitgeliefert, denn hier schlummert ein Ladenhüter, der seit sicherlich vierzig Jahren nicht wachgeküsst wurde. Ob er denn nicht viel zu groß für mich sei, fragt mich der Verkäufer verstört, die Verwirrung ist ihm ins Gesicht geschrieben. Da ich ihm eine schlaflose Nacht ersparen will, erlöse ich ihn und sage, es sei ein Geschenk für meine Großmutter, woraufhin er mir das Fossil strahlend und sorgsam in Packpapier wickelt, ehe er es über die Theke schiebt. Die Frau Großmutter werde bestimmt zufrieden sein, solch eine gute Qualität gebe es heutzutage nur noch selten – und als ich beim nächsten Schwimmbadbesuch die Kinnlade von Nadador Salvador herunterklappen sehe, bin auch ich überzeugt, einen hervorragenden Kauf getätigt zu haben.
    ✽✽✽
    Ich bin nun stolze Besitzerin eines hinreißenden Badeanzugs und einer zunehmend kräftiger werdenden Beinmuskulatur. Davon abgesehen kann ich
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