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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon
Autoren: Sylvia Roth
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– Alles gut, alles klar? Meist im Zusammenhang mit einer Begrüßung verwendet, gibt es darauf die unterschiedlichsten Reaktionsmöglichkeiten. Wer gerade selber nicht so genau weiß, wie er sich in seiner Haut fühlen soll, der kann die Schultern zucken und etwas gequält ein „Mais ou menos …“ („Mehr oder weniger …“) durch die Lippen quetschen; wer sich gerade frisch verliebt oder im Lotto gewonnen hat, wirft seinem Gegenüber ein strahlendes „Sim, tudo óptimo!“ zu, alles suuuper! Laut Marta ist Ersteres die portugiesische und Letzteres die brasilianische Variante. Wer sich nicht in nationale Streitigkeiten einmischen möchte, kann aber auch neutral bleiben, sich für die dritte Option entscheiden, es genießen, endlich mal wieder einen Vokal aussprechen zu dürfen, und einfach nur sagen: „Sim, tuuuudo.“
    • Als Viertes wundere ich mich darüber, dass Fado manchmal auch Reggae heißen kann. Marta stellt mir nämlich nun, da wir unsere Suppe gegessen haben, ein weiteres Familienmitgliedvor: Bob Marley. Bob Marley ist ein gut genährter getigerter Kater mit einem weißen Fleck unter der Schnauze. Und wenn Bob Marley maunzt, sagt er nicht „Miau“, sondern „Machão“. Marta meint, das habe damit zu tun, dass Bob Marley vor zwölf Jahren, als kleines unschuldiges Kätzchen mit einer Hündin aufgewachsen ist und deshalb nie wusste, ob er nun bellen oder miauen soll. Ich habe da aber eine andere Theorie. Ich glaube, dass Bob Marley Portugiesisch spricht und deshalb nicht den Reggae, sondern den Fado im Blut hat. Das „ão“ am Ende des Wortes verweist eindeutig auf einen der wichtigsten portugiesischen Nasallaute, den Diphtong. Und den hat Bob Marley drauf wie kein anderer. Ich fände es überheblich, meiner frisch gewonnenen und so liebenswürdigen portugiesischen Gastfamilie gleich am ersten Tag mit Reformen ins Haus zu fallen. Ich möchte auch das Tier nicht unnötig verwirren. Deshalb behalte ich es erst einmal für mich, dass ich Bob Marley soeben umgetauft habe. Er ist nun nach einer der berühmtesten Fado-Sängerinnen aller Zeiten benannt und heißt Amália. Amália Rodrigues.
    • Das Fünfte, was ich von den Portugiesen lerne, ist Höflichkeit. „Zzzzz … zzzzz“, zischt es in den ersten Tagen immer dann, wenn jemand auf den schmalen Trottoirs an mir vorübergeht. Anfangs zucke ich zusammen und frage mich, ob die Leute etwas gegen mich haben, dann identifiziere ich hinter den beiden Konsonanten ein Wort: „Com licença“, raunen mir die Menschen zu, was so viel wie „Sie gestatten“ bedeutet. Bei jeder Gelegenheit, egal, ob man eng an jemandem vorbeistreift oder sich im Café zu jemandem an den Tisch setzt, ja, letztlich immer dann, wenn man eine Grenze überschreitet und den Bereich des anderen betritt, wird um Erlaubnis gebeten. Und das geht weit über eine bloße Floskel hinaus.
    An der Bushaltestelle reiht man sich gehorsam in einer Schlange auf – und selbst dann, wenn alles geregelt scheint, lässt beim Einsteigen in den Bus jeder dem anderen den Vortritt. Weshalb es passieren kann, dass manchmal vor lauter Beflissenheit gar nichts mehr geht. Im Innern des Busses mündet diese gute Erziehung in ein skurriles Bäumchen-Wechsel-dich-Spiel: Die Vorderen rücken nach hinten auf, um den neu zusteigenden Fahrgästen Platz zu machen, vor allem den älteren und gebrechlichen Menschen. Auch im Supermarkt herrscht Entgegenkommen: An der Kasse werde ich vorgelassen, weil ich zwei Salatköpfe weniger in meinem Einkaufskorb habe als die Dame vor mir. Und in der Straßenbahn bietet mir ein Herr seinen Platz an, damit der Kuchen, den ich in der Hand balanciere, wohlbehalten zu Hause ankommen kann.
    • Für die sechste Lektion fehlt mir das richtige Wort, deshalb sage ich provisorisch, dass die sechste Lektion, die ich von den Portugiesen lerne, Dezenz ist. Weil ich mich hier in den ersten Tagen wie ein Elefant im Porzellanladen fühle. Wenn ich morgens mit nassen Haaren das Haus verlasse, im Gehen ein Stück Gebäck in mich hineinschlinge und mit einem kräftigen Schluck aus der Wasserflasche nachspüle, dann weiß jeder, aber auch wirklich jeder, dass ich eine Ausländerin bin. Eine Portugiesin würde sich weder ungeföhnt auf die Straße wagen noch ebendort essen oder trinken. Wenn ich, weil ich ein kleines bisschen lernfähig bin, darauf verzichte, auf der Straße zu frühstücken und stattdessen in eine Pastelaria gehe, um eine „Torrada“ zu verzehren – eines jener
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