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Ein Herzschlag danach

Ein Herzschlag danach

Titel: Ein Herzschlag danach
Autoren: Sarah Alderson
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einsetzen, diese Kraft, und nie mehr hieß ab sofort niemals mehr. Ich würde damit nicht mehr Türen öffnen, das Licht ein- oder ausschalten oder das Brot schneller toasten – und ganz bestimmt würde ich sie niemals mehr einsetzen, um mich gegen jugendliche Taschendiebe zu verteidigen.
    Natürlich würde ich eine Weile an Entzugserscheinungen leiden. Aber das war entschieden besser, als mein Leben in der Klapsmühle zu verbringen.
    Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, spülte den bitteren Geschmack aus dem Mund und warf einen Blick in den Spiegel – ein bleiches Gesicht mit schwarzen Schatten unter den Augen starrte zurück. Wie eine Leiche. Nur sah eine Leiche wahrscheinlich sogar nach zehn Tagen noch besser aus. Meine Haare waren ein einziges blondes Chaos und die Lippen so blass, dass sie kaum von der Haut zu unterscheiden waren. Ich betrachtete meine zerschrammten Beine, lehnte mich gegen das Waschbecken und streifte mir vorsichtig die zerrissene Strumpfhose ab. Auf der rechten Schenkelseite hatte sich ein riesiger Bluterguss gebildet und inzwischen eine interessante Schwarzfärbung angenommen. Auf der blassen Haut wirkte er grausig. Vorsichtig tastete ich ihn ab und zuckte zurück. Hartes, geronnenes Blut war unter der Haut zu spüren. Ich wollte das Bein belasten – und schrie auf vor Schmerzen. Wieder warf ich einen Blick auf mein Spiegelbild und zwang mich, die Tränen zurückzudrängen, die mir in die Augen schossen.
    Ich sehnte mich nach meiner Mutter. Ich sehnte mich nach meinem großen Bruder Jack. Ich wünschte, er würde plötzlich neben mir auftauchen und mich retten, wie damals, als ich fünf war und ein Bein gebrochen hatte. Mit jeder Faser meines Körpers sehnte ich mich nach ihm. Zugegeben, natürlich hätte ich auch Alex gern bei mir gehabt. Jacks besten Freund wünschte ich mir genauso sehr herbei wie meinen Bruder. Oder vielleicht sogar noch ein bisschen mehr.
    Terminal 5 am Heathrow Airport: eine riesige Halle in Weiß. Es war kurz vor Mitternacht. Die Anzeige der Abflugtafel schien stehen geblieben zu sein und ich versuchte, sie durch meinen Blick wieder zum Leben zu erwecken. Wenn ich doch sofort an Bord gehen könnte und nicht erst in sechs Stunden! Schon deshalb, weil mein Dad in dieser Zeit durchaus herausfinden konnte, dass ich seine Kreditkarte geklaut hatte. Mit jeder Minute stieg die Wahrscheinlichkeit dramatisch, dass er nicht nur mich, sondern das ganze Flugzeug am Abflug hindern würde. Aber sosehr ich auch auf die Anzeige starrte, ich konnte sie nicht dazu bringen, sich schneller zu bewegen. Und eigentlich hatte ich ja beschlossen, Enthaltsamkeit zu üben.
    Langsam ließ ich mich wieder in den Sitz zurücksinken. Lähmende Verzweiflung legte sich über mich. Vielleicht war es schiere Panik. Ich musste mir eine wirklich gute Ausrede für Jack und für Dad einfallen lassen. Die E-Mail, die ich Jack geschickt hatte, würde nicht viel nützen. Es war nur eine einzige lapidare Zeile: Überraschung!!! Komme dich in L.A. besuchen. Bin gegen Mittag da. Küsschen, Lila.
    Und keinerlei Erklärung.
    Aber welche halbwegs glaubhafte Begründung hätte ich ihm schon liefern können? Habe jemandem mit meiner psychotischen Gedankenkraft beinahe ein Messer ins Auge gerammt. Ist es okay, wenn ich für eine Weile bei dir bleibe? Das würde ungefähr so gut ankommen wie die Mitteilung, dass ich schon mein ganzes Leben lang in seinen besten Freund verliebt war.
    Ich atmete tief ein. Dieses Mal saß ich wirklich in der Patsche. Deshalb machte ich das, was ich in Stresssituationen immer tat: Ich kramte sämtliche bruchstückhaften Erinnerungen an Alex hervor (das war nicht schwer, weil ich sie grundsätzlich in den besonders leicht zugänglichen Regionen meines Gedächtnisses abspeicherte) und setzte sie wie Puzzleteile zusammen.
    An dem Tag, als ich mir das Bein brach … an diesem Tag verliebte ich mich in ihn. Er mochte damals ungefähr neun Jahre alt gewesen sein. Ich war nur fünf, aber es war definitiv seither um mich geschehen. Ich hatte meinen Schlitten gegen einen Baumstamm gefahren oder vielleicht hatte mich Jack auch in Richtung Baum gestoßen. Aber der gebrochene Knochen, der aus meiner Haut ragte, war eine meiner schönsten Erinnerungen, weil dazu auch die Erinnerung an Alex’ Gesicht gehörte. Alex, der mich in seinen roten Parka wickelte, auf den Schlitten hob und mich eine halbe Meile weit durch den Schnee zog, bis wir endlich auf einen Erwachsenen trafen. Zweifellos:
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