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Ein Gebet für die Verdammten

Ein Gebet für die Verdammten

Titel: Ein Gebet für die Verdammten
Autoren: Aufbau
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aus.«
    Bruder Marcán streckte die Hand danach aus, und er reichte ihm den Fetzen. Der junge Mann las laut vor, was er entzifferte:
    Ein Schrei aus tiefster Not,
    Gebrochen ward mein Herz in Pein.
    Es schlägt nicht ohne ihn, bleibt tot.
    Er schniefte verächtlich. »Ziemlich sentimentales Zeug.«
    »Das Mädchen ist tot«, tadelte ihn Bruder Augaire.
    »Aber aus eigenem Entschluß. Abgesehen von unserem Glauben gilt auch nach dem Gesetz unseres Landes Selbstmord als ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Es ist die höchste Form von
fingal,
Totschlag eines nahen Verwandten,eine Tat, die in einer Gesellschaft wie der unseren, die auf Familienbanden beruht, weder vergeben noch vergessen werden kann.«
    »Aber Verständnis für das Geschehene muß man doch wenigstens aufbringen?« begehrte Bruder Augaire auf.
    »Verständnis wofür?«
    »Daß dieses junge Mädchen, das noch das ganze Leben vor sich hatte, all seiner Hoffnungen beraubt gewesen sein muß.« Erneut blickte er auf das fahle Gesicht der Toten. »Wer konnte jemanden wie dich dazu treiben, sich das Leben zu nehmen? War es ein Mann, der dir solchen Kummer bereitet hat?« fragte er mit gedämpfter Stimme. »Was für ein Mann muß das gewesen sein, der solche Macht über dich hatte?«
    Bruder Marcán neben ihm hüstelte nervös. »Darüber zu rätseln, wer das wohl war, ist müßig. Unser Glaube lehrt eindeutig: Die Seele des Mädchens ist verloren, es sei denn, es gäbe Vergebung über das Grab hinaus. Komm, Bruder, laß uns unsere Stimmen im Gebet für die Verdammten erheben.
De profundis clamavi ad te Domine
… Aus der Tiefe ruf ich, Herr, zu dir …«

KAPITEL 1
    »Nimm dich in acht, Ségdae von Imleach, dich könnte sonst Tod oder ewige Verdammnis ereilen!« Abt Ultán unterstrich seine Warnung, indem er mit der Faust auf den Tisch hämmerte.
    Die Gruppe, die auf der gegenüberliegenden Seite des dunklen Eichenholztisches saß, hielt deutlich den Atem an. Nur der großgewachsene, weißhaarige Mann, dem die Worte galten, schien ungerührt. Voller Gleichmut und mit einem Lächeln auf dem Gesicht saß Ségdae, Abt und Bischof aus Imleach, in seinem Armsessel.
    Insgesamt hatten an dem Tisch im Studierzimmer des Abts von Imleach sechs Männer und zwei Frauen Platz genommen. Abt Ségdae mit seinem Verwalter und zwei ehrwürdige Gelehrte der Abtei saßen auf der einen Seite, ihnen gegenüber Ultán, Abt von Cill Ria und Bischof der Uí Thuirtrí, zusammen mit seinem Schreiber und zwei weiblichen Mitgliedern seiner Abtei.
    In dem flackernden Kerzenlicht, das den düsteren Raum etwas erhellte, wirkten selbst Abt Ultáns Begleiter angesichts der Maßlosigkeit seiner Drohgebärde leicht verstört.
    Seinem Ausbruch folgte eine kurze Pause. Dann beugte sich Bruder Madagan, Abt Ségdaes Verwalter, der
rechtaire
der Abtei von Imleach, etwas vor.
    »Du wagst, uns zu drohen, Ultán von den Uí Thuirtrí?Weißt du, mit wem du sprichst?« fragte er mit finsterem Gesicht. »Du hast den Comarb, den Nachfolger des heiligen Ailbe vor dir, den obersten Bischof des Glaubens in unserem Königreich Muman. Imleach hat nie die Forderungen von Ard Macha anerkannt. Weiß nicht ein jeder, daß der heilige Ailbe das Wort Christi hierhergebracht hat, noch ehe Patrick seine Fahrt zu den Königtümern im Norden unternahm? Du solltest deine Worte mit mehr Bedacht wählen und dich Drohungen enthalten, allzu leicht könnten sie auf dich selbst zurückfallen.«
    Bei aller Entrüstung hatte sich Bruder Madagan unter Kontrolle; er setzte die Worte mit frostiger Stimme, und daß es ihm ernst war, erkannte ein jeder.
    Beschwichtigend legte Abt Ségdae die Hand auf den Arm seines Verwalters, wandte aber nicht den Blick von Bischof Ultáns zornig rotem Gesicht ab.
    » Aequo animo,
Bruder Madagan«, meinte er begütigend.
» Aequo animo
. Ich bin ganz sicher, Abt Ultán hat mir nicht ernsthaft drohen wollen. Niemand, der die Gastfreundschaft dieses Hauses erfährt, käme auf einen solchen Gedanken.« Schwang da eine leichte Betonung, ein sanfter Tadel in dem Satz mit? »Der Abt hat lediglich seiner Überzeugung von der Richtigkeit seines Anliegens Nachdruck verleihen wollen. Kann sein, er ist in der Wahl seiner Worte ein wenig über das Ziel hinausgeschossen.«
    Abt Ségdae hielt inne, wartete geduldig auf eine Erwiderung.
    Das allseitige Schweigen wurde nur vom Knacken der trockenen Holzscheite unterbrochen, die in der Feuerstelle weiter hinten im Raum brannten; auch hörte man draußen den Wind
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