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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr
Autoren: Jojo Moyes
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Doppelhaushälfte mit vier Zimmern in einer Reihe mit anderen Drei- oder Vier-Zimmer-Doppelhaushälften. Dads Auto war da, was bedeutete, dass er noch nicht zur Arbeit gefahren war.
    Hinter mir ging über Stortfold Castle die Sonne unter, der dunkle Schatten der Burg glitt wie flüssiges Wachs über den Hügel, als wollte er mich überholen. In meiner Kindheit ließen wir auf der Straße unsere langgezogenen Schatten die Schießerei am O. K. Corral nachspielen. An jedem anderen Tag hätte ich jetzt vermutlich erzählt, was ich in dieser Straße alles erlebt habe. Wo mir mein Vater das Radfahren ohne Stützräder beigebracht hat; wo Mrs. Doherty mit der schiefen Perücke Rosinenbrötchen für uns gebacken hat; wo Treena ihre Hand in eine Hecke gesteckt hat, als sie elf war, und in ein Wespennest griff, sodass wir kreischend bis zur Burg hinaufrannten.
    Thomas’ Dreirad lag auf dem Weg durch den Vorgarten, und nachdem ich die Gartenpforte hinter mir zugemacht hatte, stellte ich es unter die Veranda und ging ins Haus. Die Wärme traf mich wie ein Schlag; Mum ist wahnsinnig kälteempfindlich und lässt die Heizung das ganze Jahr laufen. Dad reißt immer die Fenster auf und jammert, sie würde uns noch alle ruinieren. Er behauptet, unsere Heizungsrechnung wäre genauso hoch wie die Verschuldung eines afrikanischen Kleinstaates.
    «Bist du’s, Liebes?»
    «Ja, ich bin’s.» Ich hängte meine Jacke an die Garderobe, wo sie zwischen all den anderen kaum noch Platz hatte.
    «Welches Ich? Lou oder Treena?»
    «Lou.»
    Ich ging ins Wohnzimmer. Dad lag bäuchlings auf dem Sofa, den Arm tief zwischen die Polsterung gesteckt, als wäre das Sofa lebendig und hätte seinen Arm verschluckt. Thomas, mein fünfjähriger Neffe, hockte vor ihm und beobachtete ihn genau.
    «Dieses Lego.» Dad sah mich an, das Gesicht rot vor Anstrengung. «Warum sie die verdammten Teile so klein machen müssen, werde ich nie verstehen. Hast du den linken Arm von Obi-Wan Kenobi gesehen?»
    «Der hat auf dem DVD-Player gelegen. Ich glaube, Thomas hat Obis Arme mit denen von Indiana Jones vertauscht.»
    «Tja, anscheinend kann Obi unmöglich braune Arme haben. Wir müssen die schwarzen Arme finden.»
    «Das ist doch kein Problem. In Episode II hackt ihm Darth Vader doch sowieso den Arm ab, oder?» Ich tippte mit dem Finger auf meine Wange, damit Thomas mir ein Küsschen gab. «Wo ist Mum?»
    «Oben. Sieh mal an! Eine Zweipfundmünze!»
    Ich sah auf und hörte von oben ganz schwach das vertraute Quietschen des Bügelbretts. Josie Clark, meine Mutter, setzte sich niemals in Ruhe hin. Das war für sie Ehrensache. Es war sogar vorgekommen, dass sie draußen auf der Leiter stand, den Fensterrahmen lackierte und uns gelegentlich zuwinkte, während wir anderen beim Essen saßen.
    «Könntest du mal nach diesem blöden Arm suchen? Ich bin schon eine halbe Stunde dabei und muss langsam zur Arbeit.»
    «Hast du Spätschicht?»
    «Ja. Und es ist schon halb fünf.»
    Ich warf einen Blick auf die Uhr. «Eigentlich ist es halb vier.»
    Er zog seinen Arm zwischen den Kissen heraus und sah auf seine Uhr. «Wieso bist du dann schon zu Hause?»
    Ich schüttelte nur unbestimmt den Kopf, als hätte ich die Frage nicht richtig gehört, und ging in die Küche.
    Großvater saß über ein Sudoku gebeugt auf seinem Stuhl am Fenster. Die Krankenschwester hatte uns erklärt, mit Sudokus könnte er nach dem Schlaganfall seine Konzentrationsfähigkeit trainieren. Wahrscheinlich war ich die Einzige, die mitbekam, dass er die Kästchen einfach mit irgendwelchen Zahlen ausfüllte, die ihm gerade in den Sinn kamen.
    «Hallo, Großvater.»
    Er sah auf und lächelte.
    «Möchtest du einen Tee?»
    Er schüttelte den Kopf und öffnete leicht den Mund.
    «Lieber etwas Kaltes?»
    Er nickte.
    Ich machte den Kühlschrank auf. «Wir haben keinen Apfelsaft.» Apfelsaft war, wie mir jetzt wieder einfiel, inzwischen zu teuer für uns. «Da ist noch Limonade. Willst du die?»
    Er schüttelte den Kopf.
    «Wasser?»
    Er nickte, und als ich ihm das Glas gab, murmelte er etwas, das ein Danke gewesen sein konnte.
    Dann kam meine Mutter mit einem Korb voll säuberlich gefalteter Wäsche in die Küche. «Sind das deine?» Sie hielt ein Paar Socken hoch.
    «Die gehören Treena, glaube ich.»
    «Dachte ich mir schon. Merkwürdige Farbe. Sind wohl mit Dads blauem Pyjama in die Maschine geraten. Du bist früh zurück. Willst du irgendwohin?»
    «Nein.» Ich trank ein Glas Leitungswasser.
    «Kommt Patrick
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