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Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland
Autoren: Jules Verne
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der seinen Wiederausbruch für die vierte Morgenstunde angesagt hatte, die Schenke verlassen haben würde. Da er seine Ungeduld aber nicht bemeistern konnte, schlich er sich, in der Voraussetzung, unbemerkt zu bleiben, etwa zwei Stunden nach Mitternacht in das Zimmer Pochs ein.
    Poch schlief aber nicht. Bei dem Lichtscheine aus Kroffs Laterne richtete er sich im Bette auf. Da sich Kroff, der ihn nur hatte bestehlen wollen, jetzt entdeckt sah, stürzte er sich auf den Unglücklichen und stieß ihm das Messer – ein schwedisches Dolchmesser
(»Skideknif«) –
mit furchtbarer Gewalt mitten ins Herz.
    Dann durchwühlte er die Mappe Pochs. Sie enthielt die Summe von fünfzehntausend Rubeln in Hundertrubelscheinen der Staatskassenverwaltung.
    Welcher Fluch entwand sich aber Kroffs Lippen, als er in einem andern Fache der Mappe ein Blatt mit folgendem Inhalt fand:
    »Verzeichnis der Nummern der Kassenscheine, von dem sich ein gleichlautendes zweites in den Händen der Herren Gebrüder Johausen befindet.«
    Das war eine Vorsichtsmaßregel, die Poch niemals außer Acht ließ, wenn er für Rechnung des Bankhauses eine Zahlung zu leisten hatte.
    Die Kassenscheine, deren Nummern bekannt waren, konnte also niemand ausgeben, ohne sich der größten Gefahr auszusetzen… Der Mörder würde davon keinen Nutzen haben.
    Jetzt erst kam ihm der Gedanke, die Verantwortung für das Verbrechen dem Reisenden, der im Nebenzimmer schlief, zuzuschieben. Er trat deshalb vor das Haus, ritzte die Striche in die Fensterbank und den Mauerputz darunter ein, sprengte dann den Laden des zweiten Fensters mit einem Feuerhaken auf, und schlüpfte wieder in die Schenke hinein.
    Voller Wut bei dem Gedanken, daß die Kassenscheine seinen Händen nicht nur nutzlos, sondern sogar sehr gefährlich wären, verfiel er auf den abscheulichsten Weg zur Abhilfe.
    Warum sollte er denn nicht in das Zimmer des andern Reisenden eindringen, um die Kassenscheine in dessen Tasche zu stecken, nachdem er sich andere, die dieser ohne Zweifel bei sich haben mußte, angeeignet hatte?
    Der Leser weiß, daß Dimitri Nicolef zwanzigtausend Rubel bei sich führte, die er Wladimir Yanof aushändigen wollte. Während er im tiefsten Schlummer lag, fand Kroff in einer seiner Rocktaschen diese Summe in Kassenscheinen, von Scheinen, deren Nummern niemand kannte. Er nahm davon fünfzehntausend Rubel weg und entkam auch unbemerkt aus dem Zimmer. Dieses Geld vergrub er am Fuße eines Baumes in dem Tannenwalde, gleichzeitig auch das Messer, womit er Poch getötet hatte, und das alles so gut, daß es jeder Nachsuchung der Polizei entgehen mußte.
    Um vier Uhr früh verabschiedete sich dann Dimitri Nicolef von dem Schenkwirte und verließ das ‘Umgebrochene Kreuz’, um sich schnellstens nach Pernau zu begeben, wo Wladimir Yanof ihn erwartete. Damit erklärt sich nun, infolge welcher schlauen Anschläge der Verdacht auf ihn fallen und sich bald fast zu völliger Gewißheit verdichten mußte.
    Kroff, der also nun im Besitze der Kassenscheine Dimitri Nicolefs war, während dieser von deren Vertauschung nichts wußte und nichts wissen konnte, war letzt in der Lage, sich des Geldes ohne weitere Gefahr zu bedienen. Er tat das aber nur mit der größten Vorsicht und ausschließlich zur Deckung der drängendsten Bedürfnisse.
    Im Laufe der dem Richter Kerstorf anvertrauten Untersuchung der Angelegenheit wurde Nicolef von dem Brigadier Eck als der Reisende bezeichnet, auf den der Verdacht der Täterschaft fiel. Der Privatlehrer leugnete zwar, der Urheber des Verbrechens zu sein, er weigerte sich aber, die Veranlassung zu seiner auffälligen Reise anzugeben, und er wäre ohne Zweifel in Haft genommen worden, wenn im letzten Augenblicke nicht Wladimir Yanof erschienen wäre, der sich für seine Unschuld verbürgte.
    Da Kroff den auf Nicolef lastenden Verdacht sich vermindern sah, packte ihn die Furcht, denn er sah ein, daß dieser Verdacht jetzt auf ihn fallen werde.
    Obwohl er noch immer unter der Aufsicht der die Schenke bewachenden Polizisten stand, gelang ihm doch ein neuer hinterlistiger Streich, der den Verdacht auf den Reisenden zurücklenken und die Überzeugung festigen mußte, daß dieser der Urheber des Verbrechens wäre. Nachdem er einen der Kassenscheine mit Blut befleckt und so weit verbrannt hatte, daß nur ein Eckstück davon übrig blieb, konnte er einmal in der Nacht das Dach der Schenke ersteigen und den Rest des Billetts in den Schornstein des Kamins in dem von Nicolef
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