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Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland
Autoren: Jules Verne
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er seinen Proviant ebenso bestimmt erneuern, wie den Inhalt seiner Korbflasche, aus der er eben die letzten Tropfen geschlürft hatte.
    »Bauern haben mich ja niemals abgewiesen, sagte er für sich, und die von Livland werden einen Slawen wie sie selbst auch nicht von der Tür wegjagen.«
    Er hatte ja recht, nur mußte sein Unstern ihn nicht einem Schenkwirte deutscher Abstammung zuführen, deren es in diesen Provinzen sehr viele gibt. Diese hätten einem Russen sicherlich nicht den Empfang bereitet, den der Flüchtling bei den Bauern des moskowitischen Reichs gefunden hatte.
    Der Wanderer war obendrein nicht gezwungen, auf seiner Reise die Mildtätigkeit der Leute in Anspruch zu nehmen. Noch blieb ihm eine Anzahl Rubel, die seine Bedürfnisse bis zum Ende der Fahrt, wenigstens durch Livland, zu decken versprachen. Freilich, was stand ihm bevor, wenn er zu Schiffe gehen wollte?… Doch das wollte er sich später überlegen. Vorläufig war es das Wichtigste, das Ausschlaggebende, einen der Häfen, entweder am finnischen Meerbusen oder an der Ostsee, zu erreichen; diesem Ziele mußte er mit allen Kräften nachstreben.
    Sobald es ihm – gegen sieben Uhr abends – dunkel genug erschien, verließ der Flüchtling, nachdem er seinen Revolver schußfertig gemacht hatte, wieder die Hütte. Der Wind war im Laufe des Tags nach Süden umgesprungen die Temperatur war auf Null Grad gestiegen, und das Schneelager, aus dem schwärzliche Spitzen herausragten, zeigte eine Neigung zu schmelzen.
    Im Anblick des Landes keine Änderung. In seinem mittleren Teile wenig ansteigend, zeigt es nur im Nordwesten unbedeutende Höhen, die kaum über hundert bis hundertfünfzig Meter hinausgehen. Die langen Ebenen bieten dem Vorwärtskommen eines Fußgängers keine Schwierigkeiten, so lange nicht Tauwetter den Erdboden vorübergehend unpassierbar macht, doch vielleicht war das gerade jetzt zu befürchten. Es kam also vor allem darauf an, einen Hafen zu erreichen, und wenn das Tauwetter vorzeitig einträte, wäre das um so erwünschter, da die Schiffahrt dann desto eher eröffnet werden konnte.
    Etwa vierzehn Werst liegen zwischen dem Peipussee und dem Marktflecken Ecks, den der Flüchtling gegen sechs Uhr morgens erreichte; er hütete sich aber, ihn zu berühren. Dabei wäre er Polizisten in die Hände gelaufen und hätte sich nach seinen Ausweispapieren einer Anfrage ausgesetzt, die ihn in die schlimmste Verlegenheit bringen mußte. Nein, in diesem Flecken wollte er keine Unterkunft suchen. In der Entfernung von einer Werst ging er daran vorüber und verbrachte den Tag hier in einer verfallenen Hütte, von der aus er um sechs Uhr abends weiter wanderte und dann die Richtung nach Südwesten, nach dem Embachflusse, einhielt, bei dem er nach Zurücklegung von zehn Werft eintraf… einem Flusse, dessen Wasser sich mit dem Watzjerosee an dessen nördlicher Spitze vermischt.
    Von hier aus hielt es der Flüchtling, statt durch die Weidenwälder und Ahorndickichte des Ufergeländes zu dringen, für geratener, über den See hin zu wandern, dessen Tragfähigkeit noch nicht vermindert sein konnte.
    Da stürzte aus hoch hinziehenden Wolken ein starker Regen herab, der die Auflösung der Schneeschicht beschleunigte. Die Anzeichen demnächstigen Tauwetters traten schon deutlich hervor. Nicht fern mehr konnte der Tag sein, wo sich die Eisdecke der Wasserläufe der Gegend in Bewegung setzte.
    Der Flüchtling ging raschen Schrittes dahin, verlangte es ihn doch, vor Tagesanbruch das Ende des Sees zu erreichen. Noch fünfundzwanzig Werst zurückzulegen, eine harte Wegstrecke für einen schon ermatteten Menschen, und die längste, die er sich bisher zugemutet hatte, da sie diese Nacht zusammen fünfzig Werst – fast sieben geographische Meilen – betragen würde. So zehn Stunden der Ruhe am nächsten Tage waren dann gewiß ehrlich verdient.
    Im ganzen blieb es jedoch recht bedauernswert, daß das Wetter zum Regen umgeschlagen war. Bei trockener Kälte wäre leichter und schneller zu marschieren gewesen. Auf dem glatten Eise der Embach fand der Fuß jedoch noch einen Stützpunkt, den ihm der von der Schneeschmelze kotige Weg am Ufer hin nicht mehr geboten hätte. Dumpfes Krachen und vereinzelte Sprünge deuteten aber darauf hin, daß bald Eisgang eintreten und das Schmelzen der Schollen beginnen werde. Das bereitete einem Fußgänger dann neue Hindernisse, wenn er einen Fluß überschreiten wollte, sobald er das nicht schwimmend ausführte. Alle diese Gründe
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