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Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland
Autoren: Jules Verne
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erleuchtete er gewiß das Innere eines Wachthauses am Seeufer, denn jetzt hatten die Fischer ihre Hütten noch keinesfalls bezogen, da sie dazu auf das Tauwetter warteten, das vor der zweiten Aprilhälfte hier nicht einzutreten pflegt. Aus Vorsicht mußte der Flüchtling also nach rechts oder links ausweichen, um dem betreffenden Wachtposten nicht vor die Augen zu kommen.
    Er schlug die Richtung nach links ein. Auf dieser Seite schienen, soweit das durch den beim Morgenwinde schon aufsteigenden Nebel zu beurteilen möglich war, die Bäume dichter beieinander zu stehen. Wurde er verfolgt, so fand er hier zuerst vielleicht ein Versteck und dann einen Ausweg, seine Flucht fortzusetzen.

    Kaum fünfzig Schritte weitergekommen, scholl ihm von rechts her ein barsches »Wer da?« entgegen.
    Dieses »Wer da?«, das mit starkem deutschen Tonfalle gerufen wurde, machte natürlich einen unheimlichen Eindruck auf den, an den es gerichtet war. Übrigens ist die deutsche Sprache hier sehr verbreitet, und wenn auch weniger unter dem Landvolke, so doch unter den Bewohnern der Städte in den baltischen Provinzen.
    Der Flüchtling gab auf den Anruf keine Antwort.
    Er warf sich platt auf das Eis und hatte daran sehr wohl getan. Fast augenblicklich krachte ein Schuß, und ohne seine Vorsicht hätte ihn eine Kugel wahrscheinlich mitten in die Brust getroffen. Ob er aber den Zollwächtern entgehen würde? Bemerkt hatten ihn diese ohne Zweifel, dafür sprach der Anruf und der Schuß. In dem noch dunkeln Nebel konnten diese aber glauben, einer Augentäuschung verfallen gewesen zu sein.
    Das anzunehmen hatte der Flüchtling bald begründete Ursache, nach den zwischen den Männern gewechselten Worten, die er bei ihrer Annäherung erlauschte.
    Sie gehörten in der Tat zu einem Wachtposten des Peipussees… arme Teufel, deren ursprünglich grüne Uniform schon mehr gelb geworden war, Leute, die gern die Hand nach einem Trinkgelde ausstrecken, so dürftig ist der Sold, den ihnen die »Tamojna«, die moskowitische Zollverwaltung, gewährt. Es waren ihrer zwei, die, auf dem Rückwege nach ihrem Posten, einen Schatten zwischen den Eisblöcken bemerkt zu haben glaubten.
    »Du bist dir sicher, etwas gesehen zu haben? fragte der eine.
    – Ja gewiß, antwortete der andere, einen Pascher, der sich nach Livland einschleichen wollte.
    – Na, das ist diesen Winter nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein; ich glaube übrigens, der hier ist davongelaufen, da wir von ihm keine Spur gefunden haben.
    – Ja, erwiderte der, der den Schuß abgegeben hatte, bei einem solchen Nebel kann man ja kaum zielen, und ich bedaure es, unsern Mann nicht zur Strecke gebracht zu haben. So ein Pascher trägt doch immer eine volle Flasche bei sich, die hätten wir als gute Kameraden redlich geteilt…..
    – Und nun haben wir nichts, uns den Magen zu wärmen!« setzte der andere hinzu.
    Die Zollbeamten setzten jetzt, wo ihnen der Mund wässerig geworden war bei dem Gedanken, einen guten Schluck Schnaps oder Wodka zu ergattern, ihre Nachsuchungen eher noch emsiger fort, als bei dem Gedanken, einen Zollbetrüger zu fangen… doch ihre Mühe blieb vergebens.
    Sobald der Flüchtling sie für genügend entfernt hielt, setzte er seinen Weg zum Ufer hin fort, und noch vor Tagesanbruch hatte er Zuflucht unter dem Strohdache einer Hütte gefunden, die drei Werst südlich von dem Wachtposten lag.
    Wohl hätte es die Vorsicht gefordert, daß er diesen Tag über wach bliebe und immer scharf auslugte, um durch keine verdächtige Annäherung überrascht zu werden und noch entweichen zu können, wenn die Zollwächter etwa Nachsuchungen nach der Seite der Hütte hin unternähmen. Von Ermüdung überwältigt, konnte der sonst so ausdauernde Mann dem Schlafe aber doch nicht widerstehen. In einer Ecke ausgestreckt und in seinen Kaftan gewickelt, schlief er bald fest ein, und es war schon spät am Tage, als er wieder erwachte.
    Es war gegen drei Uhr des Nachmittags. Glücklicherweise hatten die Zollwächter ihren Posten nicht verlassen und sich mit dem einzigen nächtlichen Schusse begnügt, da sie offenbar annahmen, sich getäuscht zu haben. Der Flüchtling konnte sich nur beglückwünschen, dieser ersten Gefahr nach dem Betreten seines Heimatlandes entronnen zu sein.
    Nach stärkendem Schlummer kaum erwacht, mußte er seinem Bedürfnis, etwas zu essen, gerecht werden. Der geringe Inhalt seines Beutels reichte ja noch für eine oder zwei Mahlzeiten. Beim nächsten Halteplatz mußte
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