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Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland
Autoren: Jules Verne
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Schnaps zur Hälfte gefüllten Korbflasche, und endlich durch einen festen Stock. Beutel, Flasche und selbst die Geldtasche waren ihm aber weniger wichtig als seine Waffen, von denen er bei einem Angriffe durch Raubtiere oder durch Polizeiagenten tüchtig Gebrauch zu machen entschlossen war. Übrigens zog er nur in der Nacht weiter, immer darauf bedacht, unbeobachtet nach einem Hafen der Ostsee oder des finnischen Meerbusens zu kommen.
    Bisher hatte er seine gefährliche Wanderung unbehelligt fortsetzen können, obwohl er nicht mit einem von den Militärbehörden ausgestellten »Porodojna« versehen war, dessen Vorweisung die Postenführer des moskowitischen Reiches zu verlangen verpflichtet waren. Fraglich blieb es freilich, ob ihm das noch ebenso glückte, wenn er sich dem noch strenger bewachten Küstengebiete näherte. Unzweifelhaft war ja sein Entfliehen gemeldet worden, so daß er, ob er nun den Verbrechern gegen das gemeine Recht oder den politisch Verurteilten zugehörte, gewiß mit derselben Sorgfalt gesucht, mit demselben Eifer verfolgt wurde. Ließ ihn das ihm bisher günstige Glück von der livländischen Grenze an im Stiche, so wäre das freilich ein Scheitern im Hafen gewesen.
    Der gegen hundertzwanzig Werst lange und etwa sechzig breite Peipussee wird in der warmen Jahreszeit von vielen Fischern befahren, die sein fischreiches Gewässer ausbeuten. Der Schiffahrt dienen im übrigen schwerfällige Fahrzeuge, eine einfache Verbindung von kaum behauenen Baumstämmen und schlecht gehobelten Brettern, bekannt als »Struzzes«, mit denen auf den natürlichen Ausflüssen des Sees Lasten von Getreide, Flachs und Hanf nach den benachbarten Städtchen und selbst bis nach der Bucht von Riga befördert werden. Zur jetzigen Jahreszeit und unter einer Breite mit so verspätetem Frühling ist der Peipussee natürlich für Schiffe nicht fahrbar, dagegen könnte sich ein Zug Artillerie über seine, von der Kälte eines strengen Winters erhärtete Oberfläche sorglos hinbewegen. Augenblicklich bildete er nur eine weite, weiße Ebene mit kristallenen Blöcken in der Mitte und mächtigen Eisstauungen am Eingange zu mehreren Flüssen.
    Das war die entsetzliche Wüstenei, die der Flüchtling sichern Schrittes durchmaß und in der er sich mühelos zurechtfand. Er kannte ja die Gegend und ging so schnell, daß er das westliche Ufer voraussichtlich noch vor Tagesanbruch erreichte.
    »Es ist ja erst zwei Stunden nach Mitternacht, murmelte er für sich. Noch zwanzig Werst zurückzulegen, und da drüben wird es mir nicht schwer fallen, eine Fischerhütte, einen verlassenen Unterschlupf zu finden, wo ich bis zum Abend ausruhen kann. In diesem Lande marschier’ ich ja nicht mehr aufs Geratewohl!«
    Es schien, als ob er hiermit alle seine Anstrengungen vergäße, als ob das beste Vertrauen wieder in ihm erwachte. Sollte es auch das Unglück wollen, daß die Agenten seine von ihnen verlorene Fährte wieder aufspürten, so würde er ihnen doch zu entgehen wissen.
    In der Befürchtung, von dem ersten Tagesscheine überrascht zu werden. ehe er den Peipussee hinter sich hätte, raffte sich der Flüchtling zu einer letzten Anstrengung auf. Gestärkt durch einen herzhaften Schluck Schnaps aus seiner Korbflasche, schlug er eine noch schnellere Gangart ein, ohne sich jemals aufzuhalten. Gegen vier Uhr morgens tauchten denn auch schon, unbestimmt zu sehen, einige magere Bäume, übereiste Fichten neben Gruppen von Birken und Ahornbäumen, vor ihm am Horizonte auf.
    Dort war das feste Land… die Gefahren für ihn wurden damit aber größer. Wenn auch die livländische Grenze den Peipussee in seiner Mitte durchschneidet, so sind an ihr doch begreiflicherweise keine Zollwächter aufgestellt. Die Verwaltung hat sie nur an das westliche Ufer beordert, wo die Struzzes im Sommer anlegen.
    Der Flüchtling wußte das recht gut, und es konnte ihn deshalb nicht überraschen, ein Licht unsicher erglänzen zu sehen, das in dem herrschenden Nebel wie ein gelbliches Loch erschien.
    »Bewegt sich dieses Licht fort oder bleibt es an derselben Stelle?« fragte er sich und blieb neben einem der Eisblöcke stehen, die rings um ihn aufragten.
    Veränderte das Licht seinen Ort, so konnte es nur das einer in der Hand getragenen Laterne sein, womit wahrscheinlich eine Zollwächterpatrouille ihren nächtlichen Gang auf dem Peipussee beleuchtete, und dann war es von Wichtigkeit, dieser nicht in den Weg zu laufen.
    Blieb der Lichtschein aber an derselben Stelle, so
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