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Ein Drama am Ufer des Meeres (German Edition)

Ein Drama am Ufer des Meeres (German Edition)

Titel: Ein Drama am Ufer des Meeres (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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zur Verzweiflung bringen, teure Seele, die ich so wohl begriffen habe!«
    »Die übermäßige Mittagshitze legt über jene drei Ausdrucksformen des Unendlichen eine verzehrende Farbe«, begann Pauline wieder. »Ich begreife hier die Dichtungen und die Leidenschaften des Orients.«
    »Und ich begreife hier die Verzweiflung.«
    »Ja,« sagte sie, »diese Düne ist ein erhabenes Kloster.«
    Wir hörten den eiligen Schritt unseres Führers; er hatte Sonntagskleider angezogen. Wir richteten einige Worte an ihn; er glaubte zu bemerken, daß unsere Seelenverfassung sich geändert habe; und mit jener Zurückhaltung, die das Unglück verleiht, beobachtete er Stillschweigen. Obgleich wir uns von Zeit zu Zeit die Hand drückten, um uns unsere beiderseitigen Gedanken und Eindrücke mitzuteilen, schritten wir während einer halben Stunde schweigend einher, sei es, daß wir von der Hitze niedergedrückt waren, die in leuchtenden Wellen aus der Mitte der Sandwüste ausstrahlte, sei es, daß die Schwierigkeit des Marsches unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Wir gingen Hand in Hand wie zwei Kinder; wir hätten nicht zwölf Schritte machen können, wenn wir uns den Arm gegeben hätten. Der Weg, der nach Bourg de Batz führt, war nicht abgesteckt; es genügte ein Windstoß, um die Spuren zu verwischen, die Pferdehufe oder Karrenräder zurückließen; aber das geübte Auge unseres Führers erkannte an etwas tierischem Kot, an ein paar Stückchen Pferdemist unsern Weg, der bald zum Meere hinablief, bald zur Höhe der Hänge hinanstieg oder um die Felsen herumführte. Zu Mittag hatten wir nicht mehr als den halben Weg zurückgelegt.
    »Wir wollen uns dort unten ausruhen, sage ich, indem ich auf ein aus Felsen gebildetes Vorgebirge zeige, hoch genug, um vermuten zu lassen, daß wir dort eine Grotte finden würden.
    Als er mich dies vorschlagen hörte, schüttelte der Fischer, der der Richtung meines Fingers gefolgt war, den Kopf und sagte zu mir: »Da ist jemand. Alle die von Bourg de Batz nach le Croisic gehen oder von le Croisic nach Bourg de Batz, machen einen Umweg, um dort nicht vorbeizukommen.« Die Worte dieses Mannes waren halblaut gesprochen und ließen ein Geheimnis ahnen.
    »Ist es denn ein Dieb, ein Mörder?
    Unser Führer antwortete uns nur durch ein tiefes Atemholen, das unsere Neugierde verdoppelte.
    »Aber wenn wir da vorbeigehen, wird uns ein Unglück zustoßen?«
    »O nein!«
    »Gehen Sie mit uns dort lang?«
    »Nein, mein Herr.«
    »Wir werden dennoch hingehen, wenn Sie uns versichern, daß keine Gefahr für uns damit verbunden ist.«
    »Das sage ich nicht«, antwortete der Fischer lebhaft. »Ich sage nur, daß der, der dort anzutreffen ist, Ihnen nichts sagen und Ihnen nichts Böses antun wird. 0 mein Gott! er wird sich nicht einmal von seinem Platze rühren.
    »Wer ist es denn?«
    »Ein Mensch!«
    Niemals sind zwei Silben so tragisch ausgesprochen worden.
    In diesem Augenblick hatten wir uns auf zwanzig Schritt jenem Riff genähert, über das das Meer hinwegspülte; unser Führer schlug den Weg ein, der um die Felsen herumführte; wir gingen geradeaus weiter; aber Pauline faßte mich unter den Arm. Unser Führer beschleunigte seine Schritte, um zur gleichen Zeit mit uns die Stelle zu erreichen, wo die beiden Wege sich wieder vereinigten. Er nahm ohne Zweifel an, daß wir, nachdem wir den Menschen gesehen hätten, in beschleunigtem Schritt weitergehen würden. Dieser Umstand reizte unsere Neugierde, die nun so stark wurde, daß unsere Herzen klopften, als wenn uns ein Gefühl von Furcht befallen hätte. Trotz der Hitze des Tages und der Müdigkeit, die uns der Marsch durch den Sand verursacht hatte, waren unsere Seelen noch befangen in der unaussprechlichen Wollust eines harmonischen Entzückens; sie waren voll von jener reinen Freude, die man nicht anders wiedergeben kann als durch den Vergleich mit dem, was man beim Anhören einer lieblichen Musik empfindet, dem ›andiamo mio ben‹ von Mozart. Zwei echte Empfindungen, die sich miteinander vereinen, gleichen sie nicht zwei schönen Singstimmen? Um die Bewegung richtig würdigen zu können, die uns ergriffen hatte, muß man den halb wollüstigen Zustand mitempfinden, in den uns die Ereignisse dieses Vormittags versetzt hatten. Betrachte bewundernd eine Weile lang eine hübsch gefärbte Turteltaube, die auf einem biegsamen Zweige sitzt, nahe einer Quelle, und du wirst einen Schmerzensschrei ausstoßen, wenn du einen Sperber auf sie herabstoßen siehst, der ihr
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