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Ein Drama am Ufer des Meeres (German Edition)

Ein Drama am Ufer des Meeres (German Edition)

Titel: Ein Drama am Ufer des Meeres (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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zuzuschreiben war.
    »Mit viel Mühe und Not«, sagte er. »Der Fischfang vom Meeresufer aus ist für den, der weder Barke noch Netz hat und ihn nur mit Falle oder Angel betreiben kann, ein unsicherer Erwerb. Sehen Sie, man muß auf den Fisch oder die Muschel lauern, während die großen Fischer sie aus dem offenen Meere holen. Es ist so schwer, auf diese Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen, daß ich der einzige bin, der an der Küste fischt. Ich verbringe ganze Tage, ohne etwas mitzubringen. Damit ich einen Fang machen kann, muß schon eine Seespinne verschlafen haben oder ein Hummer weit genug verschlagen sein, um zwischen den Felsen stecken zu bleiben. Manchmal kommen Lubinen hierher nach der Flut; dann fasse ich sie.«
    »Nun, wieviel verdienen Sie im ganzen täglich?«
    »Elf oder zwölf Sous. Ich würde damit durchkommen, wenn ich allein wäre; aber ich habe meinen Vater zu ernähren, und der arme Mann kann mir nicht helfen: er ist blind.«
    Bei diesen Worten, die so schlicht gesprochen waren, sahen wir uns schweigend an, Pauline und ich.
    »Sie haben eine Frau oder eine gute Freundin?«
    Er warf uns einen der jammervollsten Blicke zu, den ich je gesehen habe, während er erwiderte: »Wenn ich eine Frau hätte, müßte ich doch meinen Vater im Stich lassen. Ich kann nicht ihn ernähren und noch Frau und Kinder dazu.«
    »Nun gut, mein armer Kerl, warum versuchen Sie nicht damit Geld zu verdienen, daß Sie am Hafen Salz tragen oder in den Salzteichen arbeiten?«
    »Ach, mein Herr, ich würde diese Arbeit nicht drei Monate aushalten. Ich bin nicht kräftig genug, und wenn ich stürbe, müßte mein Vater betteln gehn. Ich brauche einen Beruf, der nicht mehr verlangt als ein wenig Geschicklichkeit und viel Geduld.«
    »Und wie bringen es zwei Personen fertig, mit zwölf Sous täglich zu leben?«
    »Oh, mein Herr, wir essen Buchweizenkuchen und Entenmuscheln, die ich von den Klippen losmache.«
    »Wie alt sind Sie denn?«
    »Siebenunddreißig.«
    »Waren Sie auch mal fort von hier?
    »Ich bin einmal nach Guérande gegangen, um mich zum Militär zu stellen, und habe mich nach Savenay begeben, um mich von Herren untersuchen zu lassen, die mich gemessen haben. Wenn ich einen Zoll mehr hatte, war ich Soldat. Ich wäre bei der ersten Strapaze krepiert, und mein armer Vater würde heute betteln.«
    Ich habe viele Dramen ersonnen. Pauline war bei einem Menschen, der so litt wie ich, an starke Gemütsbewegungen gewöhnt; und dennoch! Noch niemals hatte weder sie noch ich Worte vernommen, die uns so bewegt hätten wie die des Fischers. Wir gingen einige Schritte schweigend, ermaßen beide die stumme Tiefe dieses unbekannten Lebens und bewunderten den Adel dieser Ergebenheit, die sich selbst nicht kannte; die Kraft dieser Schwäche setzte uns in Erstaunen; der sorglose Edelmut machte uns klein. Ich sah ganz instinktiv dieses arme Wesen an der Klippe geschmiedet, wie ein Galeerensklave an seine Kugel, und dort seit zwanzig Jahren auf Muscheln lauern, um sein Leben zu fristen, bestärkt in seiner Geduld durch ein einziges Gefühl. Wieviel Stunden wurden so verbracht in einem Winkel des Strandes! Wieviel Hoffnungen durch ein Körnchen, durch einen Wetterwechsel vernichtet! Er hing am Rande einer Granitplatte und hielt den Arm ausgestreckt wie ein indischer Fakir, während sein Vater, auf einem Schemel sitzend, in Stille und Dunkelheit darauf wartete, daß er die gemeinsten Muscheln und Brot bekam, wenn es dem Meer so beliebte.
    »Trinken Sie manchmal Wein? fragte ich ihn.
    »Drei oder viermal im Jahr.
    »Nun, dann sollen Sie heute welchen trinken, Sie und Ihr Vater, und wir werden Ihnen ein Weißbrot schicken.«
    »Sie sind sehr gütig, mein Herr.«
    »Wir werden Ihnen Mittagessen geben, wenn Sie uns am Meeresufer entlang bis nach Batz bringen wollen, wo wir uns den Turm ansehen werden, der das Wasserbecken und die Küste zwischen Batz und le Croisic beherrscht.«
    »Mit Vergnügen«, sagte er zu uns. »Gehen Sie gradeaus weiter und folgen Sie dem Weg, auf dem Sie sich befinden; ich treffe Sie dort, nachdem ich mich meines Geräts und meines Fischfangs entledigt habe.«
    Wir machten ein Zeichen des Einverständnisses, und er schritt lustig nach der Stadt zu. Diese Begegnung erhielt unsere seelische Erregung, aber sie hatte unsere Fröhlichkeit gedämpft.
    »Armer Mann,« sagte Pauline in jenem Ton, der der Teilnahme einer Frau das Verletzende nimmt, was Mitleid haben kann, »schämt man sich nicht, sich glücklich zu
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