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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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Dass sein Vater irgendwo lebt und lacht mit einer neuen Frau, die nicht krank ist, mit einem neuen Sohn, der keine Ähnlichkeit hat mit der Frau, der er davongelaufen ist, in einer neuen Stadt, die ihn nicht an die erinnert, die er hinter sich gelassen hat.
    Aber dann entsinnt sich Patrick an den Augenblick, als er am Tag, nachdem Dad gegangen war, dessen halbvolle Packung Pall Mall auf dem Küchentresen fand. Eben mal losgegangen,
um Zigaretten zu kaufen, obwohl er noch welche hatte? Hä? Sonst noch ein Märchen auf Lager?
    Eine Woche später rauchte Patrick seine erste Zigarette in einer leeren Gasse, wo er hinter Mülleimern hockte, die nach Kotze stanken und nach was Süßem – Obst vielleicht, das zu gären begonnen hatte. Er kam sich erwachsen vor, so als Raucher. Das war es doch, was Männer taten, und jetzt, wo Dad sich davongemacht hatte, war er der Mann im Haus, oder? Also würde er Pall Mall rauchen und Pabst Blue Ribbon trinken wie sein Dad.
    Nur dass er Mom niemals verlassen würde.
    Wahre Männer machten sich nicht aus dem Staub.
    Bevor er seine erste Zigarette aufgeraucht hatte, war ihm schon flau im Magen, aber er fühlte sich dennoch gut. Sein Kopf wurde leicht, wie mit Helium gefüllt, schien sich vom Hals lösen zu können, um in die Luft aufzusteigen. Er stellte sich vor, wie sein Zeppelinkopf am grauen Großstadthimmel schwebte. Er stellte sich all die Dinge vor, die er würde sehen können – die Autos, aufgereiht wie Ameisen, die nur darauf warteten, zertreten zu werden, oder die Dachgärten der Menschen, winzige Winkel der Welt, die einzig und allein aus der Luft zu erreichen waren. Er würde ein Vogel sein und fliegen können, wohin er wollte.
    Aber wahre Männer machten sich nicht aus dem Staub. Es sei denn, ihnen blieb keine Wahl.
    »Wo ist dein Buch?«, fragt Patrick.
    Mom zeigt mit dem Finger darauf.
    Johnny zieht in den Krieg von Dalton Trumbo liegt auf ihrem Nachttisch neben einem Glas abgestandenem Wasser.
    Patrick nimmt das Buch und setzt sich auf einen Sessel am Bett seiner Mutter. Er hat ihn vor zwei Monaten zu ebendiesem Zweck aus dem Wohnzimmer geholt: damit er bei ihr sitzen und ihr vorlesen kann. Der Sessel ist ramponiert
und alt und zerschlissen und riecht nach Hund, obwohl sie schon seit drei Jahren keinen Hund mehr haben. Er ist voller Flecken und in sich zusammengesackt wie ein alter Mann ohne Hoffnung. Aber noch erfüllt er seinen Zweck. Patrick schlägt das Buch an der umgeknickten Seite auf und beginnt zu lesen.
    »Wenn Armeen sich in Bewegung setzen«, liest er, »und Flaggen wehen und Schlachtrufe ertönen, dann gib nur acht, kleiner Mann, denn es sind nicht deine Kastanien, die im Feuer liegen, sondern die eines anderen. Du kämpfst für Floskeln, und es ist kein ehrlicher Handel, in dem du dein Leben für etwas Höheres einsetzt. Du handelst ehrenhaft, und nachdem du gefallen bist, wird dir das, wofür du dein Leben gegeben hast, absolut nicht von Nutzen sein, und man kann davon ausgehen, dass es auch niemandem sonst von Nutzen sein wird.« Er hört zu lesen auf und leckt sich die Lippen.
    Mom sieht ihn aus gelben Augen an.
    »Was ist?«, sagt sie.
    Er antwortet nicht.
    »Liebling.«
    Patrick denkt an den Musterungsbefehl, der gute fünf Meter entfernt auf dem Couchtisch liegt. Er denkt an die Ränder des Briefbogens, die schon auf beiden Seiten angeschmutzt sind, so oft hat er das Blatt mit verschwitzten Fingern in die Hand genommen und immer wieder von neuem gelesen. Er stellt sich vor, wie er in Unterhosen in einer langen Reihe anderer junger Männer steht, die alle zur Musterung gekommen sind. Die ausgestreckten Arme vor die Brust heben, Handflächen nach oben. Jetzt die Arme schwenken, bis die Hände zum Boden zeigen. Jetzt die Zehenspitzen berühren. Er stellt sich vor, wie er einen Bus besteigt, um irgendein Exerziergelände zu erreichen. Er malt
sich aus, wie es sein muss, während der Grundausbildung mit dem Rest seiner Einheit zu biwakieren, zu lernen, wie man im Dschungel überlebt. Er stellt sich vor, nach Vietnam zu fliegen. Er stellt sich vor, auf dem Hinweg einen Sitzplatz im Flugzeug zu haben, aber den Heimweg in einem Leichensack oder einem Sarg anzutreten, zusammen mit vielen anderen und aufgestapelt wie Gerümpel in irgendeinem Frachtraum. Noch hat er Mom nichts gesagt.
    Wie wird sie reagieren, wenn er es ihr erzählt?
    Eines weiß er jedenfalls genau: Sie wird sich bestimmt nicht schlagartig besser fühlen.
    »Liebling?«, meldet sich Mom
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