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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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morgens.

    Er schaut auf den Fernseher und sieht nur Schnee.
    Auf dem Sofa neben ihm ein häufig befingerter Briefbogen, dessen Betreff alles erklärt, was der Erklärung bedarf. »Vorladung zur Musterung«, heißt es dort.
    »Leckt mich doch«, antwortet Patrick.
    Er rappelt sich hoch, kratzt sich selbstvergessen, reckt sich, bis alles wieder an Ort und Stelle ist – er muss sich im Schlaf wohl verlegen haben -, und zupft sich die Unterhose aus der Ritze. Er säubert sich den eklig schmeckenden Mund mit der Zunge und schluckt.
    Und nach einem weiteren Blick auf den Musterungsbefehl trottet Patrick über den braunen Teppich hinaus auf den Flur.
     
     
    »Ist es Zeit?«
    Seine Mom (sie heißt Harriette, aber obwohl er auf dem Papier schon erwachsen ist, sieht er sie immer noch als Mom und ist ziemlich sicher, dass es auch ewig so bleiben wird) blickt aus gelbsüchtigen Augen, die nicht mehr sind als Schlitze zwischen Fettwülsten, zu ihm auf. Sie sieht nicht gut aus. Patrick hat sich schon oft gefragt, wie lange sie es wohl noch machen wird.
    Sie ist erst zweiundsechzig. Würde er in dem Alter sterben, das seine Mutter jetzt erreicht hat, hieße das, er hätte nun bereits ein Drittel seines Lebens hinter sich. Jedenfalls so ungefähr.
    »Ist es Zeit?«, fragt seine Mutter erneut.
    Patrick nickt. »Es ist Zeit.«
    »Oh«, sagt sie.
    »Ja«, sagt er.
    Dann geht er zu einem großen Apparat in der Ecke, einer Maschine, die verhindern wird, dass es seiner Mutter noch
schlechter geht, oder die zumindest den Verschlechterungsprozess verlangsamt.
    So sagt jedenfalls Erin.
    Frank und Erin, die nebenan wohnen, haben ihnen die Maschine besorgt. Erin ist Krankenschwester. Sie hat im Krankenhaus Beziehungen spielen lassen, damit Mom die Maschine bekam, denn Mom sagte, fortzugehen und die letzten Tage ihres Lebens in einem sterilen Krankenhauszimmer zu verbringen käme für sie nicht infrage. Sie sagte, sie würde lieber sterben, als in einem Krankenzimmer weiterzuleben, das nach Lösungsmitteln riecht, einem Krankenzimmer, aus dem man alles Menschliche weggeschrubbt hat.
    Erin hat Patrick zudem beigebracht, wie die Maschine zu bedienen ist. Und danach richtet er sich jetzt.
    Er schiebt sie hinüber zu seiner Mutter, greift deren Arm und dreht ihn mit Schwung herum, so dass die fischbauchweiße Unterseite sichtbar wird. Ebenso wie die arteriovenösen Fisteln: dauerhaft eingesetzte Schläuche, durch die das Blut ein- und ausfließt.
    Patrick schließt seine Mutter an die Maschine an und setzt das Gerät in Betrieb, und wie jedes Mal hat er auch jetzt das Gefühl, in einem Science-Fiction-Film zu sein, so unwirklich kommt ihm die Situation vor.
    Jede vierte Stunde, hat man ihn instruiert.
    Um fünf Uhr, in einer Stunde, werden Moms Augen nicht mehr ganz so gelb sein. Und ihre Haut wird fast schon menschlich aussehen.
    »Du kannst es bestimmt kaum erwarten, dass ich sterbe«, sagt Mom.
    »Du weißt doch, dass es mir nichts ausmacht, mich um dich zu kümmern«, erwidert er, und das ist meistens, unter anderem auch jetzt, nicht unwahr. Es ermüdet und bekümmert
ihn, aber insgesamt macht es ihm nichts aus. Schließlich ist er der Mann im Haus. Wer sonst sollte es tun? Sein Dad hat sich aus dem Staub gemacht, als Patrick zehn war. Ging, um das berühmte Päckchen Zigaretten zu kaufen, und kam nie wieder.
    Manchmal gelingt es Patrick, sich einzureden, dass Dad sie nicht im Stich gelassen hat. Er ist von einem Laster überfahren worden oder so ähnlich, hatte ja keine Papiere bei sich, und bereits in dem Moment, als er tot im Rinnstein landete, hieß er mit neuem Namen John Doe. Ganz gewiss jedoch eine Stunde später, als man seinen Leichnam auf einen kalten Metalltisch legte, mit seitlichen Abflussrinnen, die außer der Seele alles aufnehmen, was tote Leiber von sich geben. Hätte Dad seine Brieftasche dabeigehabt, wären Patrick und Mom bestimmt informiert worden über das, was ihm geschehen ist, aber so wie es aussieht, ist man wohl mit Dad verfahren, wie man es seit dem Bürgerkrieg mit jedem John Doe gemacht hat: Man hat ihn auf dem Potter’s Field auf Hart Island anonym bestattet. Verscharrt in einem Massengrab, im Kiefernsarg, drei davon übereinandergestapelt. Ohne Zeremoniell oder individuelles Erkennungszeichen. Das Ende.
    Ja, manchmal schafft Patrick es tatsächlich, das zu glauben. Irgendwie ist es angenehmer als die Vorstellung, dass er sie einfach verlassen hat. Dass er einfach davongegangen ist, ohne einen Blick zurück.
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