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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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ein Motor den Geist auf. Sie sieht eine Spinne an der Eingangstür ihres Gartenapartments. Sie spinnt ihr Netz links oben in der Ecke. Sie hört, wie drinnen das Badewasser einläuft, hinter der Spinne und der Eingangstür, und die Wanne mit warmem Wasser füllt, in das sie schon bald hineingleiten wird.
    Aber das stimmt doch nicht, oder? Das mit dem Bad ist nicht wahr. Jedenfalls noch nicht. Und es wird niemals wahr werden, wenn sie es nicht in ihre Wohnung schafft.
    Der Mann mit dem Messer hält weiter auf sie zu.
    Aber Kat ist jetzt an ihm vorbei, auf der Straße. Adrenalin pulsiert durch ihre Adern. Auf der Suche nach ihren Schlüsseln zerrt sie hektisch am Reißverschluss ihrer Tasche. Sie fischt in deren offenem Schlund, und ein Lippenstift fliegt heraus, landet klappernd auf der Straße, rollt ein Stück und bleibt liegen. Sie hört, wie ihr Angreifer ihn unter seinem derben Bauarbeiterstiefel zermalmt. Also geht er tatsächlich, also muss er ein Mensch sein, obwohl er doch zu schweben schien. Gespenster tragen keine schmutzigen Jeans und haben weder verstopfte Hautporen noch Mitesser, oder? Gespenster tragen keine braunen Bauarbeiterstiefel. Und sie brauchen keine Messer. Ihre pinkfarbene Puderdose springt dem Lippenstift hinterher, und als sie auf den Boden prallt, meint Kat hören zu können, wie der Spiegel im Innern zerplatzt.

    Sieben Jahre Pech, denkt sie blödsinnigerweise. Dann bin ich fünfunddreißig.
    Aber jetzt spürt sie den Schlüsselbund in der rechten Hand und steht vor der Eingangstür, und sie tastet sich durch die Schlüssel, verzweifelt auf der Suche nach dem richtigen. Sie ist schweißgebadet, obwohl die Nacht so kühl ist, und dann hat sie ihn, den richtigen, den passenden Schlüssel. Sie schiebt ihn in das Schloss des Türknaufs und dreht ihn und stößt gegen die Tür. Und die Tür schwingt auf und begrüßt sie, komm herein, Kat, willkommen zu Hause. Sie macht einen Schritt in Richtung Wohnzimmer, in die sichere Dunkelheit ihres Wohnzimmers, die einladend lockt wie ein Schoß, wie die offenen Arme einer Mutter. Schon bald wird sie die Tür vor den Gefahren der Welt schließen und sich ins warme Badewasser sinken lassen. Und alles vergessen, was hier geschehen ist.
    Nur dass eine grausame Hand sie an den Haaren packt und zurückhält. Und diese Hand zerrt sie fort von der Eingangstür, die offen stehen bleibt, der Schlüsselbund pendelnd am Türknauf.
    Ich wollte doch nur mein verdammtes Bad, denkt sie.
    Und dann erhebt sich die andere Hand, die sie nicht am Haarschopf gepackt hält, in die Nachtluft über ihr. Sie hält ein Messer, ein großes Küchenmesser, dessen Klinge von Rostflecken übersät ist.
    Das Messer scheint für einen Moment in der Luft stillzustehen. Kat kann es aus dem Augenwinkel sehen.
    »Bitte«, sagt sie.
    Und das bleibt alles, was sie sagt, bevor das Messer herabgestoßen wird und sie gleich hinter dem Schlüsselbein trifft. Metall knirscht am Knochen, es folgt ein ekelerregendes, glitschiges Schmatzen … und dann werden diese Laute übertönt
von einem Schrei. Jemand stößt einen lauten Schrei aus.
    Und dann wird das Messer herausgezogen aus dem Spalt, den es in Kat geöffnet hat, und sie hört ein Geräusch, wie wenn in einem Errol-Flynn-Film ein Schwert aus der Scheide gezogen wird. Es hört sich unwirklich an. Dann sickert ihr warme Flüssigkeit den Rücken hinab.
    Sie riecht Kupfer.
    Und plötzlich schrillt ein weiterer Schrei in die Stille.
    Wer da wohl schreien mag, denkt Kat. Armes Ding.

4
    Patrick wacht vom Weckerklingeln auf, und obwohl er nicht weiß, was er noch Sekunden zuvor geträumt hat, ist er sicher, dass es nichts Gutes war, denn in seinem Kopf dröhnt ein schmutziger Schmerz, als habe man ihm zerknülltes Fischeinwickelpapier und dreckige Socken unter die Schädeldecke gestopft. In seinem Mund schmeckt es nach Zigarettenasche. Seine Augen brennen.
    Er tastet nach dem Wecker, noch im Halbschlaf, dreht ihn wieder und wieder zwischen den Fingern, bis er schließlich den richtigen Knopf findet und das Schrillen verstummt. Er stellt die Uhr wieder dort ab, wo er sie gefunden hat.
    Wo bin ich?
    Er blinzelt ein paarmal.
    Wohnzimmer. In einem Apartment. Auf dem Planeten Erde.
    Wer bin ich?
    Patrick Donaldson. Neunzehn Jahre alt.
    Was bin ich?
    Ein menschliches Wesen, das man aufgefordert hat, sich in ein fremdes Land zu begeben, um dort Schlitzis – ebenfalls menschliche Wesen – umzubringen. Fürs Vaterland.
    Wann bin ich?
    Vier Uhr
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