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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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sagen.
    Sie findet, es wäre prima, wenn sie nur anzuhalten und in einer der Zeitungen zu lesen brauchte, um herauszufinden, was heute, während sie den halben Tag verschläft, geschehen wird, aber natürlich enthalten auch die Zeitungen mit dem heutigen Datum nur alte Neuigkeiten, Neuigkeiten über die Dinge, die bereits geschehen sind, Dinge, an denen sich niemals mehr etwas wird ändern lassen. Auch nicht um vier Uhr morgens.
     
     
    Auf einem einsamen Straßenstück tauchen hinter Kat die kleinen runden Scheinwerfer eines Wagens auf, die von Sekunde zu Sekunde größer werden. Nach ungefähr einer halben Minute ist ein hellblauer 1963er-Fiat-600 plötzlich neben ihr und zischt mit gequält aufheulendem Motor und zermürbt jaulenden Weißwandreifen vorbei.
    Kurz nachdem er überholt hat, biegt Kat nach links in eine nachtstille Straße ab und nimmt ihren gewohnten Heimweg südwestlich zum Queens Boulevard.
    Wäre sie geradeaus weitergefahren, hätte sie vielleicht gesehen, wie der Fiat auf die nächste Kreuzung zusteuert. Sie hätte vielleicht gesehen, wie die Ampel an der Kreuzung
von Grün auf Gelb umspringt. Sie hätte vielleicht das Aufheulen des Motors gehört, als der Fahrer des Fiats das Gaspedal unbarmherzig bis zum Anschlag durchtritt, um das Letzte aus dem Wagen herauszuholen. Sie hätte vielleicht gesehen, wie Gelb zu Rot wird und wie der Fiat trotz Rot auf die Kreuzung rast. Sie hätte vielleicht gesehen, dass ein grüner Pick-up zur selben Zeit von rechts auf die Kreuzung fährt, hätte gesehen, wie er in den Fiat kracht, direkt in die Beifahrertür; hätte den Fiat schleudern gesehen, hätte ihn sich überschlagen gesehen, weil der Fahrer das Lenkrad zur falschen Zeit in die falsche Richtung bewegt, hätte gesehen, wie er sich dreimal um die eigene Achse dreht, bevor er am Straßenrand auf dem Dach liegen bleibt, eine Spur aus Glassplittern und Metallteilen hinter sich zurücklassend. Sie hätte vielleicht gesehen, wie er da liegt, auf dem Rücken in der leeren Nacht wie ein Käfer im Irrlicht des gelben Mondes, und wie sich seine armen kleinen Räder wild drehen und doch nirgends Halt finden. Sie hätte vielleicht gesehen, wie der Pick-up, der mit ihm zusammengestoßen ist und jetzt nur noch einen heilen Scheinwerfer besitzt, zurücksetzt, wieder die ursprüngliche Richtung einschlägt und davonfährt. Sie hätte vielleicht gesehen, wie sich das bleiche Gesicht des Fahrers im Kleinlaster kurz dem Trümmerfeld zuwendet, bevor er wegfährt. Aber sie hätte niemals erfahren, warum der Fahrer vom Unfallort geflüchtet ist, wo es doch der Fiat gewesen ist, der die rote Ampel nicht beachtet hat. Das wird niemand je wissen. Nur der Fahrer des Pick-ups ganz allein.
    Und außerdem fuhr Kat nicht geradeaus.
    Sie bog nach links ab und fuhr weiter. Und ebendas tut sie in diesem Moment. Sie fährt langsam, aber stetig ihrem Zuhause entgegen, und zu beiden Seiten der Straße leisten ihr die eigenen Spiegelbilder in den Fenstern der Gebäude
Gesellschaft. Drei Kats fahren in dieselbe Richtung. Den Unfall hätte sie hier niemals sehen können. Und als das Krachen des Zusammenpralls ertönt, weiß sie nicht, woher es kommt.
    Sie hört es, dreht kurz Buddy Holly leiser und sieht in den Rückspiegel. Aber als sie dort nichts als Dunkelheit ausmachen kann, nicht einmal ein Paar Scheinwerfer, die in der Ferne wie Wolfsaugen blitzen, stellt sie die Musik wieder lauter, vielleicht sogar noch ein wenig lauter als vor dem verstörenden Lärm des Zusammenpralls. Und sie fährt weiter.
    Vielleicht war es nur ein Donnern, das sie gehört hat. Hat nicht der Mann im Radio davon gesprochen, dass frühmorgendliche Schauer zu erwarten seien?
    Sie sieht hinauf in den Himmel. Im hellen Mondlicht sind viele graue Wolken zu erkennen, die jedoch nicht regenschwer aussehen. Bis jetzt noch nicht. Aber vielleicht irrt sie sich. Wenn, dann kommt sie hoffentlich zu Hause an, bevor der Regenguss beginnt.
    Sie hat keinen Regenschirm dabei.

3
    Kat lenkt ihren Wagen in die Austin Street.
    Sie kann bereits ihr Apartmenthaus sehen.
    Sie sieht auch, wie einer ihrer Nachbarn – sie erinnert sich nicht an seinen Namen, ein Farbiger, der immer sehr nett gewesen ist und der ihr einmal sogar Starthilfe gegeben hat – mit seinem Buick Skylark vom Long-Island-Railroad-Parkplatz biegt und ihr entgegenkommt.
    Als ihre Autos aneinander vorbeifahren, winken die Nachbarn sich zu.
    Frank! Sie meint, Frank sei sein Name. Er fällt ihr sofort ein, als sie
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