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Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)

Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)

Titel: Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
Autoren: Edzard Reuter
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Anstatt offen zu sagen, worum es geht, wird herumgetrickst und geheuchelt, notfalls werden wir auch schamlos belogen. Umso begeisterter beteuern wir bei jeder Gelegenheit unser Bedürfnis nach ehrlicher Führung durch Persönlichkeiten, denen wir abnehmen können, dass sie für Werte und Überzeugungen stehen, die ihnen wichtiger sind als ihr Erfolg bei den nächsten allgemeinen Wahlen. Kurz: dass man uns »die Wahrheit sagt«.
    *
    Zumindest auf den ersten Blick war Jean Monnet keiner, der ohne weiteres einem solchen Idealbild entsprach. Bei oberflächlicher Betrachtung zeitgenössischer Fotografien müsste man vielmehr schnell den Eindruck bekommen, dass es sich um einen typischen Kleinbürger aus der französischen Provinz handelte: nicht allzu groß gewachsen, lichtes Haar, akkurat getrimmter Schnurrbart, alles in allem ein womöglich pfiffiger, vielleicht sogar mit allen Wassern gewaschener, doch letzten Endes biederer Genussmensch mit Vorliebe für Speise und Trank. Tatsächlich stammte er aus einer Familie, die seit mehreren Generationen in dem als »Cognac« bekannten Anbaugebiet zu Hause war und dort mit Spirituosen aller Art handelte. Ausnahmslos alle, die in seinem Leben mit ihm zu tun bekamen, haben allerdings schnell feststellen müssen, wie sehr der äußere Eindruck – einschließlich des Zeit seines Lebens durch einen unüberhörbaren französischen Akzent gefärbten Englisch – täuschte. Nicht nur war der Mann blendend intelligent, sondern über alle Stationen seines wahrhaft abwechslungsreichen Lebens hinweg zeichneten ihn Einfallsreichtum, Zähigkeit und ein ungewöhnliches Einfühlungsvermögen in das Denken und Fühlen anderen Menschen aus. Weit wichtiger aber: Er entwickelte grundlegende politische Überzeugungen, von denen ihn keine noch so großen Hindernisse abbringen konnten.
    Wenn man will, könnte man insofern gewisse, womöglich sogar erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Jean Monnet und Walther Rathenau, dem legendären deutschen Außenminister der Weimarer Republik, entdecken. Natürlich gilt das nur mit Einschränkungen. Im Unterschied zu dem Franzosen war Rathenau vielen seiner verirrten Landsleute tödlich verhasst und wurde zum Opfer eines rechtsradikalen Mordanschlages (»Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau«). Monnet war von Herkommen und Ausbildung kleinbürgerlich geprägt, der Deutsche Erbe des maßgeblich durch seinen Vater aufgebauten Großunternehmens AEG. Der Ehrgeiz von Rathenau war für jedermann erkennbar darauf gerichtet, auf der Bühne der Politik eine gewichtige Rolle zu spielen, Monnet hielt sich über eine lange Wegstrecke hinweg eher im Hintergrund. Und schließlich gehörten sie Generationen an, die sich zwar während der Zeit des Ersten Weltkriegs und den unmittelbar darauf folgenden Jahren in gewisser Weise überschnitten, sich aber zweifellos durch die Intensität der jeweiligen unmittelbaren Erfahrungen deutlich voneinander unterschieden.
    Trotzdem gibt es aber eben einige mehr als auffällige Parallelen zwischen Rathenau und Monnet: Vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen unternehmerischen Erfahrungen spielten sie, der Deutsche im Ersten, der Franzose im Zweiten Weltkrieg, eine wichtige Rolle bei der Organisation des militärischen Beschaffungswesens ihrer Länder – und zum anderen bewirkten Verlauf und Ende dieser Kriege, dass beide zu zutiefst überzeugten Europäern geformt wurden, zu Persönlichkeiten, die fortan mit aller Kraft für das wirtschaftliche und politische Zusammenwachsen Europas kämpfen sollten.
    Würde man sie danach fragen, würden heute freilich nicht nur Angela Merkel, sondern nahezu alle europäischen Spitzenpolitiker – womöglich mit Ausnahmen wie etwa dem britischen Premierminister David Cameron – versichern, dass sich ihre Absichten und Bestrebungen um keinen Millimeter von den Schlussfolgerungen unterscheiden, die Jean Monnet aus seinen politischen und wirtschaftlichen Erfahrungen während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezogen hatte. Allenfalls würden sie vielleicht hinzufügen, dass sich die äußeren Umstände seitdem geändert hätten und sie deswegen leider gezwungen seien, Umwege in Kauf zu nehmen und Kompromisse einzugehen. Man kann das freilich auch nüchterner formulieren: Europäische Politik scheint inzwischen zum ebenso zähen wie rein pragmatischen Geschachere um vermeintliche oder wirkliche nationale Interessen verkommen zu sein, mit der
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