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Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort

Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort

Titel: Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
Autoren: Beauman Ned
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während des Karnevals in Venedig spielen, wenn die ganze Stadt sich Masken aufsetzte – Anwälte trugen Masken beim Plädoyer vor Gericht, Dienstmädchen, wenn sie auf den Markt gingen, Mütter legten ihren Neugeborenen Masken an –, und nicht nur Masken, sondern meistens auch ein langes Domino-Cape, sodass man nicht mehr wusste, wer Männlein und wer Weiblein war, bis sie den Mund aufmachten. Jeder durfte überall hin und mit jedem Umgang haben: »Prinz und Untertan«, wie Casanova schrieb, »der gemeine mit dem herausragenden Mann, Schöne und Hässliche vereint. Es galten keine Gesetze mehr, und die Gesetzgeber galten nichts.« Die Inquisition, die während des übrigen Jahres allwissend und allmächtig war, gab einfach auf. Für Loeser und Blumstein waren Glanz und Ränke des alten Karnevals nichts im Vergleich zu dessen uneingestandener politischer Radikalität. Wann sonst in der Geschichte hatte es ein soziales Experiment von solchen Ausmaßen gegeben? Kein Bolschewist hätte den Mut dazu gehabt. Die Stücke, die Loeser und Blumstein zusammen erarbeiteten, waren immer auf etwas aus, das man »Äquivalenz« nannte: Der Kommunist war dem Nazi gleich, der Priester dem Gangster, die in Pelz gewandete Ehefrau der Nutte in Militärstiefeln. Und deshalb passte ihnen der Karneval als Thema so gut. Genau wie die Teleportationsvorrichtung. Wie Lavicini arbeitete auch Loeser mit Federn, Flaschenzügen und Gegengewichten, aber während Lavicinis Maschine das Bühnenbild um die Darsteller rotieren ließ, bewegte Loesers Maschine nur die Darsteller im Bühnenbild, was viel einfacher war. Geplant war es so: Ein festgegurteter Schauspieler konnte in der kleinen Bank rechts oben im Bühnenbild als Börsenmakler einen Monolog halten, ins Dunkel treten und pfeilschnell nach links unten in das kleine Kasino geschossen werden, wo er als Spielsüchtiger wieder zum Vorschein kam. So ließ sich wirkungsvoll, wenn auch plump verdeutlichen, dass die beiden einander gleich waren. Und sollte in diesem neuen Stück mit Masken und Capes agiert werden, die an- und abgelegt wurden, wäre die Wirkung noch schlagender.
    Im Théâtre des Encornets war die Teleportationsvorrichtung gegen Schluss des zweiten Aktes als Novum schon über zwölf Minuten alt, und dennoch langweilte sie die Pariser Oberschicht noch nicht zu Tode. Montands wunderschöner Tanz des Halbfisches war zu Ende, die Tänzer flatterten für eine Einlage des Orchesters von der Bühne. Und dann erklang ein Grollen, als würde jemand Donner in einem Mörser zerstoßen.
    Die Darstellungen des Folgenden wichen stark voneinander ab. Die Verwirrung war verständlich. Loeser wusste nur, dass das Théâtre des Encornets einzustürzen begann – zum Glück nicht das ganze Gebäude, sondern nur die Südostecke, also eine Hälfte der Bühne und einige der vorderen Privatlogen. Eine Massenpanik setzte ein, und noch nach all diesen Jahrhunderten mag man des tragischen und sinnlosen Verlustes zahlreicher Prachtstücke der geradezu wahnwitzig schönen Damenmode aus der Frühzeit dieser Kunstform nur feuchten Auges gedenken. Die meisten ihrer Inhaberinnen entkamen tatsächlich unversehrt – ebenso wie die Musiker, die durch die Lage des Orchestergrabens vor dem herabstürzenden Marmor bewahrt wurden, und die Tänzer, die zu ihrem Glück gerade nach rechts abgegangen waren und nicht nach links. Die Liste der Toten umfasste am Ende ungefähr fünfundzwanzig Zuschauer aus jenen Privatlogen, die dem eingestürzten Teil am nächsten lagen; sie wurden geborgen, als das Feuer gelöscht war, waren aber sämtlich zu übel zugerichtet, um identifiziert zu werden; außerdem die in Ohnmacht gefallene Ballerina, die nicht bei ihren Schwestern auf der Seitenbühne gewesen war, sondern matt auf einem Sofa hinter der Bühne geruht hatte; Monsieur Merde, die Theaterkatze; und Adriano Lavicini persönlich.
    Und die Teleportationsvorrichtung hatte sich zusammen mit dem Gebäude selbst ausgelöscht. Kein einziges Teil ließ sich für eine Untersuchung der Unglücksursache bergen, und in Lavicinis Werkstatt fanden sich keine Pläne, nicht einmal Entwürfe. Auguste de Gorge war natürlich ruiniert. Und Louis XIV . ging nie wieder ins Theater.
    Zweihundertfünfzig Jahre später federte im Allientheater eine Feder. Ein Gegengewicht fiel. Ein Schauspieler flog über die Bühne. Ein Schrei erklang.
    Der ursprüngliche Teleportationsunfall war nicht allein als das einzige Mal berüchtigt, dass ein Bühnenbildner
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