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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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seine Form, die Fenster standen sperrangelweit offen. Das Leben jenseits der eigenen Wege entdecken? Sie war fünfunddreißig, wieso konnte dieser Satz sie treffen? Hatte sie nicht die letzten fünfzehn Jahre das Leben entdeckt? Sollte sich die Richtung in ihrem Alter nicht eher umkehren, sollte man da nicht eher das Leben auf dem eigenen Weg voranbringen?
    Sie stand auf, schloss das Fenster und setzte sich auf die Bettkante in die kalte Luft. Wenn es überhaupt ein Problem gab, dann doch, dass ihr eigener Weg an einigen Stellen noch nicht mit dem Leben angefüllt war, das sie sich wünschte. Dass ihr Laden zwar gut lief, sie aber noch keine Kinder hatte. Dass der Laden sie zwar erfüllte, aber nicht genug Zeit ließ, um ihre Promotion zu Ende zu schreiben. Wenn es also Probleme gab, dann diese, und sie hielten sich in Grenzen. Irgendwann würde der Richtige kommen und mit ihm die Kinder, und irgendwann auch das Ende der Promotion. Warum sollte sie sich jetzt also um das Leben sorgen, das sich jenseits dieser Baustellen befand? Sie schüttelte die Bettdecke mehrmals über dem Laken aus. Frau Holle, dachte sie, Schneeflocken, Schnee von gestern, die Sätze des Astrologen mit der schlüpfrigen Stimme waren Schnee von gestern, für Zwanzigjährige gesprochen, aber nicht für sie, sie hatte fremde Gärten gesehen, sie hatte sich vom Weg abbringen lassen, Mut war noch nie ihr Problemgewesen. Schnee von gestern. Sie warf die weiße Überdecke über ihr Bett und ging ins Bad.
     
    Unter der Dusche fiel ihr Blick auf das geometrische Muster der weißen Kacheln. Geraden, lauter Geraden, die Kreuzungen vorhersehbar, immer dasselbe Muster, mit Silikon abgedichtet. Sie nahm etwas Seife in die Hände und schäumte sie zwischen ihren Handflächen auf. Sie brauchte sich nichts vorzumachen – sie hatte sich nicht entführen lassen, noch nie, sie hatte das Steuer immer in der Hand behalten, auch wenn es nicht so ausgesehen hatte. Sie hatte sich selbst und alle anderen täuschen können, weil sie auf ihrem eigenen Weg Vollgas geben konnte, ohne Rücksicht auf Verluste. Doch tatsächlich war sie nie abgebogen, ins Unbekannte, sie hatte auch nie jemanden ihren Wagen fahren lassen. Sie, ihr Steuer und das Gaspedal. Getankt wurde im Schlaf.
    Sie wusch sich die Haare und massierte eine Kur in die dunkelbraunen Locken. Wenn sie so weitermachte, würde irgendwann einfach der Motor versagen und sie würde auf dem Standstreifen stehen bleiben – auf dem Standstreifen ihres Lebens. Lassen Sie sich entführen! Wie viele Menschen wurden im Schlaf entführt oder auf dem Standstreifen?
    Sie spülte die Kur aus, ihre Haare fühlten sich geschmeidig an, dick und nass. Dieses Wochenende würde sie sich vom Weg abbringen lassen. Sie wusste zwar nicht, wie das gehen sollte, aber sie würde es versuchen, sie würde sich bei Vollgas ins Steuer greifen lassen, sie würde die erstbeste Ausfahrt nehmen und sich entführen lassen – wenn das irgendjemand zufällig gerade vorhaben sollte.
    Sie trocknete sich ab, wickelte sich in ein hellblaues Handtuch und setzte in der Küche einen Kaffee auf. Aus ihren nassen Locken tropfte es auf ihren Hals und den Herd. Während dieheiße Luft in der Kanne nach oben stieg und der Kaffee in den Hohlraum sprudelte, legte sie ihr Gesicht in die Handflächen – sie musste sich vergewissern, dass sie es mit diesem Entschluss nicht verloren hatte. Sie drückte mit beiden Handflächen fest gegen die Wangen, die Nase, die Augenhöhle und setzte sich so ihr Gesicht etwas fester auf. Heute würden sich ihre Augen dem Leben einmal wirklich öffnen und nicht nur offen aussehen. Fremde Gärten – allein schon die Gießkannen und die Gartenschläuche, die Gräser, Büsche und Blumen zum Leben brauchten, waren doch Bilder des Glücks.
    Der Kaffee zischte, sie goss sich eine Tasse ein, zuckerte ihn mit drei Löffeln und trank ihn schnell und in kleinen Schlucken. Selbst wenn ihr Gesicht schon eine Maske geworden war – es gab Öffnungen, und die waren offen. Sie würde die Luft nicht anhalten. Sie würde weiteratmen und das Leben entdecken. Dieses Wochenende. Dieses eine Wochenende.
    Sie föhnte und schminkte sich mit einem neuen, brombeerfarbenen Lippenstift, zog ihr dunkelgrünes Lieblingskleid an, die grauen, hohen Stiefel, den schmalen Mantel und einen Schal, der zu ihren Lippen passte.
     
    Als sie aus dem Haus auf die Straße trat, war ihr Schritt so federnd, als könnte er sie in jedem Moment um die eigene Achse in alle nur
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