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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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Kaffeemaschine auf dem Herd waren zu hören. Vielleicht sollte sie die Milch überkochen lassen, damit der Sonntagmorgen irgendeine andere Qualität bekam als die des Dauerns.
    Sie schaute auf den verbliebenen Strauß, der nun armselig aussah, armselig und gerupft. Sie nahm die restlichen Stengel und steckte sie in den Mülleimer, dann strich sie sich den Blütenstaub von den nackten Armen, die aus Toms T-Shirtherausschauten, als gehörten sie ihr nicht. Was half ihr die weiche Haut, wenn Tom sie nicht berührte? Was half ihr der Blütenstaub auf den nackten Armen? Es war wirklich zum Weinen. Dabei wollte sie gar nicht weinen, weil weinen nicht zu ihr passte und sie es satthatte. Sie wollte Tom, sie wollte ein Kind und sie wollte arbeiten. Sie wollte nicht weinen.
     
    Es hatte doch alles so wunderbar angefangen, damals, an jenem Samstag im Dezember, als sie Tom getroffen hatte. Es hatte nach Schnee gerochen – genau wie jetzt, nur dass seitdem zwei Jahre vergangen waren. Damals hatte sie morgens nach dem Aufwachen auch in der Küche gesessen, aber es war ein Samstag gewesen und kein Sonntag, und sie war nach dem ersten Kaffee in die Buchhandlung aufgebrochen und hatte dort Tom getroffen. Vielleicht war der Samstag vor zwei Jahren sogar so etwas wie der schönste Tag ihres Lebens gewesen. An jedes Detail erinnerte sie sich, an jedes einzelne Detail.
     
    Samstagmorgen. Noch hatte sie den Tag nicht ziehen lassen, zu sehr genoss sie die Reglosigkeit der Zeit, die vielleicht daher rührte, dass sie den Atem anhielt und sich nicht bewegte; es fühlte sich an, als stünde sie neben der Welt und könnte sie für einen Moment beobachten – und genau das liebte sie an dem kurzen Moment des Aufwachens. Es erinnerte sie an eine unberührte Schneedecke.
     
    Das Licht drang matt durch die orangefarbenen Vorhänge, und von draußen waren ein paar fahrende Autos, ein weinendes Kind und das Bellen eines Hundes zu hören. Um diese Zeit waren in Berlin-Mitte noch alle Läden geschlossen, die Frühstückscafés leer und das Grau der Straße nur von Eltern mitihren buntbemützten Kindern gesprenkelt. Um diese Zeit erschien dieser Stadtteil wie ein zu groß geratenes Dorf; und die paar wenigen, die jetzt schon auf den Beinen waren, grüßten sich oder dachten, grüßen passe nicht in eine Großstadt.
    Gleich würde sie wieder atmen müssen, und dann wäre es vorbei mit der Reglosigkeit, dann würde der Tag sie sofort einnehmen mit seinem unermüdlich schlagenden Takt. Sie war nicht wie Alison, sie konnte sich nicht entziehen und auf diese beneidenswerte Plankton-Wahrnehmung umschalten, die es Alison erlaubte, ihre Umgebung in einer Art Dämmerzustand zu betrachten; Friederike stand immer unter Strom und befand sich in einem ständigen Austausch mit der Welt um sich herum. Und schon war es wieder soweit: Irgendein Geräusch auf der Straße hatte sie einen Luftzug nehmen lassen. Sie stand also auf, öffnete beide Fensterflügel und schlüpfte zurück in ihr Bett. Dann schaltete sie das Radio an, das neben ihr auf einem Stapel von Büchern und losen Blättern stand. Der Dielenboden unter ihren nackten Füßen hatte sich kalt und glatt angefühlt, als wäre er mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Das Radio spielte einen Song aus den Achtzigern, den sie schon hundertmal gehört hatte und von dem sie immer noch nicht wusste, wie er hieß. Die Schneeluft nahm den Raum in klaren Zügen für sich ein. Die Geräusche, die sie gerade noch gedämpft vernommen hatte, wurden durch die geöffneten Fenster deutlicher, ein Kind schrie nach einem Kakao, ein Vater rief etwas zurück, die Autos fuhren langsam.
    Friederike atmete tief ein und schloss die Augen. Den Wortlaut der eindringlichen Männerstimme, die nun im Radio sprach, nahm sie kaum wahr. Doch als wieder Musik erklang, merkte sie, dass sie die letzten Sätze sehr wohl wahrgenommen hatte, und zwar Wort für Wort. Und jetzt, wo die Stimme verstummt war, kam es ihr vor, als wären die Wortegenau in diesem Raum, diesem Bett, diesen Ohren gelandet. Typische Allgemeinplätze einer Astrologiesendung: Menschen dieses Zeichens haben jetzt endlich die Chance, ihre Scheuklappen abzulegen und das Leben zu entdecken, das sich jenseits ihres Weges befindet. Fassen Sie den Mut und lassen Sie sich in fremde Gärten entführen, Ihr Leben wird dadurch vielleicht nicht einfacher, aber reicher.
    Sie setzte sich im Bett auf und schaltete das Radio aus. Die Decke glitt auf ihren Schoß, das Kopfkissen behielt
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