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Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Titel: Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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Ziemlichkeit konnte mir niemand etwas tun. »Innerhalb« bedeutete, den Menschen ohne scheele Blicke begegnen zu können, ohne Anstoß zu erregen, und zugleich eine Art Frieden zu empfinden, weil ich wie die anderen war. Weil ich dachte wie die anderen. Vor meinem inneren Auge sah ich eine enge Gasse mit hohen Mauern. So sollte mein Leben aussehen. Und mich überwältigte eine tiefe Traurigkeit. Bis dahin hatte ich vielleicht an die Freiheit geglaubt. Wie Kinder das so tun, sie halten ja alles für möglich. Aber ich hatte eine Wahl getroffen, obwohl ich klein war und vielleicht nicht alles begriff. Um zu überleben, folgte ich einem uralten Instinkt. Ich wollte nicht allein sein, ich wollte lieber wie die anderen sein und die Regeln befolgen. Doch in diesem Moment entglitt mir etwas, es hob ab, flog davon und war für immer verschwunden. Deshalb kann ich mich so gut an diesen Augenblick erinnern. Dort in der Küche, im grünen Licht, im Alter von sechs Jahren verlor ich meine Freiheit.
     
    Ein stummes, wohlerzogenes Kind. Auf Bildern, die zu Weihnachten und an Geburtstagen aufgenommen worden sind, sitze ich auf Mutters Schoß und schaue mit bravem Lächeln in die Kamera. Jetzt habe ich einen eisernen Kiefer, so fest, daß es mir Schmerzen in die Schläfen jagt. Wie konnte es so weit kommen? Sicher gibt es viele und unterschiedliche Gründe, und sicher ist auch der Zufall schuld daran, daß unsere Wege sich gerade an diesem Abend gekreuzt haben. Aber was ist mit dem eigentlichen Verbrechen? Mit diesem Impuls, woher stammt der? Wann ist der Mord entstanden? In dem Moment? Dann kann ich mir die Schuld mit den Umständen teilen. Daß er mir über den Weg gelaufen ist, daß er so war, wie er war. Denn mit ihm war ich nicht mehr Irma, sondern Irma mit Andreas. Und das war etwas anderes als Irma und Ingemar. Oder Irma und Runi. Sie wissen schon, die Chemie. Jedesmal entsteht eine neue Formel. Irma und Andreas haben einander zerstört. Oder stimmt das nicht? Wächst das im Laufe der Jahre heran? Schlummert das Verbrechen irgendwo, im persönlichen Code des Körpers? Ich sehe mein Leben zwangsläufig im Licht des Entsetzlichen, das passiert ist, und dieses Entsetzliche muß ich im Licht dessen sehen, was mein Leben gewesen ist. So werden es auch alle anderen betrachten. Sie werden nach etwas Erklärbarem Ausschau halten, nach dem Teil, der sich erklären läßt. Der Rest wird in einer Grauzone der Mutmaßungen dahintreiben.
    Aber zurück zu der Szene. Da stand ich also in der Küche. Meine Anwesenheit brachte die Stille zum Klirren. Sie war schön gewesen, aber nun konnten sie sie nicht mehr ertragen. Mutter drehte sich um und kam auf mich zu. Beugte sich über mich und schnupperte an meinen Haaren.
    »Die müssen gewaschen werden«, sagte sie. »Die riechen ja schon.«
    Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, meine Zeichensachen zu holen. Den Geruch der fetten Wachskreiden zu schnuppern, mit denen ich so gern malte. Aber ich ging hinaus in den Garten, stieg über den Zaun und lief an der ehemaligen Schmiede vorbei in den Wald. Zwischen den Tannen lag eine angenehme graugrüne Dunkelheit. Ich ging in braunen Sandalen über den trockenen Weg und entdeckte einen Ameisenhaufen. Ich bohrte mit einem Stock darin herum und freute mich über das Chaos, das ich auf diese Weise verursachen konnte. Eine Katastrophe für diese geordnete Gesellschaft, die vielleicht Wochen brauchen würde, um alles wiederherzustellen. Der Wunsch zu zerstören! Das lustvolle Gefühl der Macht, als ich mit dem Stock im Ameisenhaufen herumwühlte. Es tat gut. Ich hielt nach etwas Ausschau, das ich den Tieren zum Fraß hinwerfen könnte. Eine tote Maus oder was auch immer. Gern hätte ich zugesehen, wie sie sie verzehrten. Sie hätten alles stehen- und liegenlassen und die Katastrophe vergessen, etwas Eßbares wäre wichtiger gewesen. Da war ich mir sicher. Aber ich fand nichts und ging weiter. Kam zu einem verlassenen Hof. Setzte mich auf die Türschwelle und dachte an die Geschichten über die früheren Bewohner. Gustav und Inger mit ihren zwölf Kindern. Uno, Sekunda, Trevor, Firmin, Femmer, Sexus, Syver, Otto, Nils, Tidemann, Ellef und Tollef. Es war unfaßbar und die reine Wahrheit. Aber sie leben nicht mehr.
    Ja. Bei Gott, an den ich nun wirklich nicht glaube, ich habe Andreas gesehen. Ich denke zurück an den schrecklichen Augenblick, als ich den Wunsch, ihn zu zerstören, kommen spürte. In der Sekunde sah ich mein Gesicht in einer
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