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Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Titel: Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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sie, etwas zu verbergen. Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, die Uhr zeigte 16.03. Aus Spaß kritzelte er etwas auf einen Block.
    »Frau von etwa 60 kommt um 16.00 ins Büro. Wirkt verwirrt. Sagt, sie vermißt ihren Mann, der nicht mehr lange leben wird. Trägt einen braunen Mantel und ein blaues Halstuch. Braune Handtasche, dunkle Stiefel. Möglicherweise senil. Verschwindet nach wenigen Minuten. Lehnt Angebot, sie nach Hause zu bringen, ab.«
    Er dachte nach. Sie war wohl nur eine verwirrte Seele, davon gab es mehr als genug. Dann riß er den Zettel vom Block, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Hemdentasche. Diese Episode hatte in seinem Tagesbericht nichts zu suchen.

WER HAT ANDREAS GESEHEN?
    Diese Frage stand in der meistgelesenen Zeitung der Stadt, fett gedruckt. Das ist der Stil der Zeitungen, locker, sie sprechen uns an, als seien wir alte Bekannte und auf du und du. Wir sollen die formellen Barrieren einreißen und einen direkten, jugendlichen Ton anschlagen in dieser frischen, vorwärtsstrebenden Gesellschaft. Obwohl nur wenige ihn wirklich gekannt und beim Vornamen genannt haben, wollen wir den Anfang machen und fragen: Wer hat Andreas gesehen?
    Und dann sein Bild. Ein hübscher Junge von achtzehn Jahren, mit schmalem Gesicht und widerspenstiger Mähne. Ich sage hübsch, so großzügig bin ich immerhin. So hübsch, daß er es zu leicht hatte. Er stolzierte mit seinem schönen Gesicht durch die Welt und hielt alles für selbstverständlich. Das ist ein altbekanntes Muster. Es tut keinem Menschen gut, so auszusehen. Zeitlos gewissermaßen, unbestimmbar. Ein betörender Junge. Es fällt mir nicht leicht, dieses Wort zu benutzen, aber sei’s drum. Betörend.
    Am 1. September verließ er nachmittags das Haus in der Cappelens gate. Er sagte nicht, was er vorhatte. Wohin willst du? In die Stadt. So antwortet man in dem Alter. Ist sozusagen von grenzenlosem Geiz. Man hält sich für etwas ganz Außergewöhnliches. Und die Mutter war nicht gescheit genug, ihn zu bedrängen. Vielleicht hat sie an seinem Unwillen ihr Martyrium genährt. Der Sohn war im Begriff, sie zu verlassen, und sie fand das grauenhaft. Aber eigentlich geht es um Respekt. Sie hätte den Jungen so erziehen sollen, daß es für ihn undenkbar gewesen wäre, nicht klar und respektvoll zu antworten. Ich werde ausgehen, ja, mit X oder Y. Wir wollen in die Stadt. Bis Mitternacht bin ich wieder zu Hause. Das ist doch wohl nicht zuviel verlangt? Aber sie hat versagt, wie so viele andere. So geht es, wenn man alle Kräfte für sich selbst braucht, für das eigene Leben, die eigene Trauer. Ich weiß, wovon ich rede. Und die Trauer sollte noch größer werden. Er kehrte nie nach Hause zurück.
    Ja, ich habe Andreas gesehen. Ich kann ihn sehen, wann immer ich will. Viele werden staunen, wenn er endlich gefunden wird. Und natürlich werden sie spekulieren und rätseln, werden Berichte schreiben, diskutieren und archivieren. Lauter Theorien haben. Und sich irren natürlich. Die Menschen heulen mit vielen Stimmen. In diesem Lärm lebe ich seit fast sechzig Jahren stumm. Ich heiße Irma. Und jetzt rede endlich ich. Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, und ich behaupte nicht, daß ich die Wahrheit sage. Was Sie hier lesen, ist meine Version.
     
    Eine Kindheitserinnerung fällt mir ein. Ich kann sie abrufen, wann immer ich will. Ich stehe in der Diele und habe eine Hand auf die Türklinke gelegt. Es ist still im Haus, aber ich weiß, daß sie da sind. Trotzdem ist kein Laut zu hören. Leise öffne ich die Tür und gehe in die Küche. Mutter steht am Küchentisch und häutet eine gekochte Makrele. Ich habe noch immer den Geruch in der Nase, einen süßlichen, unangenehmen Geruch. Mutters schwerer Körper bewegt sich, sie gibt zu erkennen, daß sie mich bemerkt hat. Vater ist am Fenster beschäftigt. Er schmiert Kitt in die Spalten, um Durchzug zu verhindern. Das Haus ist alt. Der Kitt ist weiß und weich wie Ton, er hat einen trockenen, kalkigen Geruch. Meine Schwestern sitzen am Küchentisch. Beide sind mit Büchern und Papieren beschäftigt. Ich erinnere mich an das blasse, leichte Übelkeit erregende Licht, das entstand, wenn die Sonne gelb in die grüne Küche schien. Ich bin vielleicht sechs. Instinktiv habe ich Angst vor Lärm. Ich bleibe stehen, allein stehe ich da und sehe sie an. Alle sind beschäftigt. Ich komme mir plötzlich ungeheuer unnütz vor, überflüssig, wie zu spät geboren. Ich denke oft, daß ich vielleicht ein
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