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Duncans Lady

Duncans Lady

Titel: Duncans Lady
Autoren: Emilie Richards
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schreien. Sie sah ein Kind auf eine Baumgruppe zulaufen, dicht gefolgt von einer Frau, die ein Baby trug. Ein Mann ritt auf einem Pferd hinterher, aber er verfolgte sie nicht. Das Kind sank im Schnee auf die Knie. Die Mutter kniete sich daneben und bedeckte es mit ihrem eigenen Umhang. Und der Schnee fiel auf sie und verbarg sie in der Dunkelheit.
    Sie glitt höher. Sie sah Rauch und die Überreste eines Hauses, das strohbedeckte Dach qualmte noch. Tiere, ein zotteliges Highlandrind und Schafe mit feiner dunkler Wolle, rannten aufgescheucht auf dem Hof herum und wurden von Männern in Uniform gejagt.
    Mara stieg noch höher. Jetzt konnte sie die Berge sehen, die ihre scharfen Gipfel dem Himmel entgegenreckten. Ihr Blick war so abgelenkt gewesen, dass sie nicht gemerkt hatte, dass es andere Berge waren als jene, die sie kannte.
    Von hier oben war das Blutbad nicht weniger schrecklich. Sie begann sich zu drehen. Langsam, ganz langsam. Wohin sie auch sah, überall erblickte sie Feuer und Blut im Schnee. Sie sah Menschen, die versuchten, sich zu verstecken, manche erfolgreich, andere nicht. Sie sah Männer, Frauen und Kinder, die sich durch die Schneeverwehungen kämpften, die vereisten Berge hinaufkletterten und sich in Höhlen zwischen hervorstehenden Felsen verbargen. Sie versuchte, den Blick abzuwenden, aber egal, wohin sie schaute, ein Bild war entsetzlicher als das andere.
    Und dann erstarben die Schreie. Der Schnee begann zu schmelzen, und während sie zuschaute, erloschen die Feuer. Gräber tauchten auf, und neue Cottages schienen aus dem Boden zu wachsen.
    Irgendwo begann ein Dudelsack zu spielen. Es war eine traurige Melodie, ein Klagelied für alle, die gestorben waren. Fingerhut, Schlüsselblume und Weiden wuchsen an den Böschungen und entlang der Seen, und Dachse und Füchse setzten ihrer Beute nach. Wolken warfen ihre langen Schatten über die Ehrfurcht gebietenden Gipfel und kargen Abhänge. Doch über dem Ort, an dem so viele Morde begangen worden waren, lag noch ein Schatten, der weit düsterer war. Ein Schatten, der selbst im hellsten Sonnenlicht nicht verschwand.
    Und der Dudelsack spielte, bis das Klagelied zu Ende war.
    Mara öffnete die Augen.
    Duncan hielt immer noch ihre Hände fest. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie konnte ihm nicht sagen, was sie gesehen hatte. Sie hatte keine Worte, um es zu beschreiben. Sie begann, das Klagelied zu summen, zuerst zaghaft, dann mit immer mehr Sicherheit. Sie erinnerte sich an jeden Ton.
    „Kennst du das Lied?“, fragte Angus sie, als sie geendet hatte.
    Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte die Augen nicht von Duncan abwenden. Er war nicht dort gewesen, wo sie gewesen war. Er hatte nicht gesehen, was sie gesehen hatte. Aber er hatte mit ihr gelitten. Sie drückte seine Hand fester.
    „Es ist piobaireachd. Ceol Mor. Klassische Musik für den Dudelsack. Mein Vater war ein Dudelsackspieler. Wenn ich mich nicht irre, war es das ‚Klagelied für Glencoe‘.“
    „Glencoe.“ Sie hauchte dieses Wort und fröstelte bis auf die Knochen.
    „Glencoe?“, fragte Duncan. „Ich verstehe nicht.“
    „Du hast deine eigene Geschichte vergessen, Junge. Glencoe war 1692 der Schauplatz eines schrecklichen Massakers“, erklärte Dr. Sutherland. „Den Highland Clans wurde versprochen, man würde ihnen die Loyalität König James gegenüber vergeben, wenn sie nunmehr König William die Treue schworen. Einer nach dem anderen leistete den Eid, doch MacIain von Glencoe wartete bis zum letzten Moment und wurde durch einen Schneesturm davon abgehalten, seinen Schwur vor Ablauf des Ultimatums zu leisten. Anschließend holte er es nach, aber das spielte keine Rolle. Er und sein Clan wurden von einem Regiment Regierungstruppen angegriffen, die Häuser wurden niedergebrannt und das Vieh davongetrieben. Einige Clanangehörige konnten in die Berge fliehen. Die meisten schafften es nicht. Es war ein dunkler Tag für Schottland.“
    „Ich habe es gesehen.“ Mara holte tief Luft. „Alles.“
    „Das Massaker?“ Duncan drückte ihre Hand. „Aber du hast Aprils Namen gerufen.“
    „Ich habe ein Kind schreien gehört.“
    „War es April?“
    „Nein. Aber sie ist da. Dort ist sie hingefahren, Duncan.“
    „Nach Glencoe? Ich verstehe nicht.“
    „Lisa ist mit ihr dorthin gefahren. Es ist nicht weit weg, eine kurze Fahrt.“
    „Aber warum? Gibt es dort jetzt irgendetwas zu sehen?“
    „Ich weiß nicht.“ Sie sah seine Enttäuschung. Sie spürte sie. Sie konnte jedes
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