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Dünengrab

Dünengrab

Titel: Dünengrab
Autoren: Sven Koch
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wollen schienen: Bleib besser, wo du bist, denn wo Platz für eine ist, ist auch Platz für zwei.
    Schließlich zog sich die Bestie fauchend zurück. Sie wirbelte Kies auf, der auf die Holztreppe prasselte und Fokkos Oberkörper wie mit kleinen Schrotkugeln beschoss. Schützend riss er sich die Arme vors Gesicht. Als er sie wieder senkte, sah er, dass die Frau verschwunden war und sich die glühenden Augen zunehmend von ihm entfernten. Als sie endgültig in der Dunkelheit verschwunden waren, faltete Fokko Broer die Hände und betete zum ersten Mal seit vielen Jahren zu einem Gott, der ihn längst verlassen hatte. Ihm war schwindelig, und es gelang ihm kaum, sich wieder aufzurappeln. Mit zitternder Hand griff er zum Türknauf, um sich daran hochzuziehen, und schwankte, als er endlich wieder stand. Fokko war sich nicht sicher, ob das am Schock oder am Rum oder an beidem lag. Aber eines war ihm völlig klar: Etwas Schreckliches war geschehen.

2
    Femke Folkmer trat in die Pedale. Die blaue Uniformhose hatte sie hochgekrempelt. Der kühle Morgenwind strich über die gebräunte Haut unter dem kurzärmeligen Hemd mit dem silbernen Stern auf der Schulter und ließ ihr zum Zopf gebundenes strohblondes Haar flattern. Der Nebel hatte sich mit der aufgehenden Sonne gelegt. Die Luft war klar und frisch, der Himmel wolkenlos. Nordseewetter. Nach dem schwülen Tag gestern eine wahre Erholung. Auf dem Gepäckträger ihres Citybikes klemmte ein roter Ordner mit den Unterlagen, die ihr den Wechsel zur Kripo ermöglichen sollten.
    Femke bog am Buddelschiffmuseum gegenüber dem Edeka-Markt auf den Radweg an der Hauptstraße ein und winkte an der Tankstelle Jan Gerdes zu, der gerade einen Lkw mit dem Hochdruckreiniger bearbeitete. Am Ausstellungsgebäude der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger grüßte Hagen, der Postbote, mit einem kernigen »Moin«. Femke lächelte ihm zu und nahm Tempo auf. Sie passierte die alte Windmühle, eines der Wahrzeichen von Werlesiel, nahm eine Rechtskurve und radelte am Hafen vorbei.
    Der Duft nach Salz und frischem Fisch stieg ihr in die Nase. Zahllose bunte Kutter lagen vor Anker. Die Krabbenfischer sortierten ihre Netze und verpackten den Fang von der Nacht in Styroporkisten. Die Werlesieler Flotte hatte Anfang der Woche die Arbeit nach einigen Streiktagen wieder aufgenommen, an denen gegen die Preispolitik und die Dumpingangebote aus den benachbarten Niederlanden demonstriert worden war – in dieser Zeit hatte es weder in Restaurants noch an Imbissbuden frische Nordseekrabben gegeben. Gut, dachte Femke, dass das jetzt ausgestanden war, denn was gab es Schöneres, als mit einer kalten Flasche Bier am Strand zu sitzen und Krabben zu pulen, sich den Wind ins Gesicht pusten lassen, die Füße im warmen Sand zu vergraben und den Möwen beim Kreisen über den Dünen zuzusehen, die eine weitere Sehenswürdigkeit von Werlesiel waren: Dünen gab es am Wattenmeer gewöhnlich nicht.
    Hinter den Deichen erkannte Femke die orangeroten Funkmasten der Fähren, die jenseits des Fischereihafens zu den Inseln fuhren und in den Sommerferien Tausende Menschen täglich transportierten. Sie ließ die Hafenpromenade mit ihren Geschäften und Gastronomiebetrieben, von denen die meisten noch geschlossen waren, hinter sich und radelte am Fischerdenkmal vorbei – einer Bronzeplastik, die Werlesiel zum fünfhundertsten Gründungsjubiläum 1982 vom Landkreis Wittmund geschenkt worden war. Dann erreichte sie das alte Rathaus, den Sitz der Gemeindeverwaltung – ein Bau aus braunroten Klinkern, mit kleinen weißen Fenstern und Glockenturm. Wenige Meter dahinter schwang sie sich vom Sattel, rollte auf dem Pedal stehend, einige Meter aus und stoppte vor dem Fachwerkhaus, in dem sich die Polizeiinspektion befand.
    Femke stellte das Fahrrad neben dem blau-silbernen Streifenwagen ab, verriegelte das Speichenschloss, nahm den Ordner vom Gepäckträger und ging hinein.
    Mit zweiunddreißig Jahren leitete Femke die Polizeistation seit knapp drei Jahren. Darauf konnte man sich als Tochter eines Pensionsbesitzers und einer Bäckereifachangestellten schon etwas einbilden, und deswegen hingen einige Zeitungsausschnitte von ihrer Ernennung sowie ein Artikel aus einem Polizeifachmagazin gerahmt in ihrem Büro. Sie öffnete die Fenster und goss die Geranien, bevor sie ihren Rucksack auspackte und danach die Mappe mit den Unterlagen für die Aufnahmeprüfung bei der Kripo auf den Schreibtisch legte – direkt neben das True-Crime-Buch »Im
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