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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Autoren: Jochen Missfeldt
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herausgefordert worden? Greift das Meer schicksalhaft in das Wohl und Wehe der Menschen ein? Herrscht es über Leben und Tod? Verlangt das Meer Opfer? Hält es die Menschen im Glauben, das Gute müsse mit dem Schlechten bezahlt werden und das Unglück folge dem Glück auf dem Fuße, damit sich alles die Waage halte wie Ebbe und Flut? Fragen, die Theodor Storm lebenslang auf den Nägeln brannten und neue aufwarfen, die noch mehr brannten: Wer fängt mich auf, wenn ich falle? Wer nimmt mir die Angst vor dem Tod?
    Kein Gott; denn an einen Gott glaubte der Dichter nicht. Und schon gar nicht glaubte er an den gnädigen Gott, dessen Gnade dem Menschen kostenlos in den Schoß fällt. Storm glaubte an das Meer und an die Liebe. Das Meer konnte er sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen wie die Liebe. Das Meer war ihm Natur wie die Liebe. Der Natur würde man irgendwann durch Denken, Forschen und Schaffen auf die Schliche kommen, man würde bessere Deiche bauen, man würde dann auch in Zeiten des Krieges wachsam sein und am richtigen Ort zur richtigen Zeit Deiche bauen und das Meer in Schach halten. Man würde irgendwann hinter die Geheimnisse von Sonne, Mond und Sternen kommen, überhaupt würden irgendwann keine offenen Fragen mehr sein. Und die Frage »Gibt es einen Gott, der auch ohne Opfer Gutes tut, der also nichts als gnädig ist?« würde dann keine offene mehr sein. Die Antwort würde lauten: Es gibt keinen.

»Lewer duad üs Slaav«
    1721 wurde der dänische König Friedrich IV. Landesherr. Die für die Herzogtümer so bedeutsame Herrschaft der Gottorfer Herzöge war am Ende. Im September leistete der alte Adel dem neuen Landesherrn auf Schloss Gottorf den Huldigungseid, und der neue König senkte die Steuern. Das kam gut an. Für die nächsten einhundertdreißig Jahre lagen Nordfriesland und Husum unter dänischem Dach und Fach. Wer jetzt das Licht der Welt erblickte, wurde als dänischer Staatsbürger geboren.
    Die Wirtschaft kam in Schwung, und man sieht und hört: Tausende Stück Vieh stehen auf dem Viehmarkt von Husum und wechseln den Besitzer. Mathias Brinkmann, der reiche Husumer Zoll- und Schlossverwalter, der auch im Hause von Storms Urgroßvater mütterlicherseits, Jochim Christian Feddersen, verkehrt, geht jeden Abend mit seinem schwarzen Diener aus, um Karten zu spielen. Landvermesser kutschieren mit ihren Messgeräten übers Land, Walfänger fahren aus mit ihren Walfangschiffen, dänische Kolonien in der Karibik locken Abenteurer und Geschäftsleute. Tischler, Böttcher, Stellmacher arbeiten in Stadt und Land an ihrem Handwerk, neue Deiche werden gebaut und tausende Hektar Koogland gewonnen, der Deichvogt ruft auf Plattdeutsch: De nich will diken – mutt wiken.
    Wenn auch Napoleon eine neue, unbekannte Gangart einlegte und am Rad des Weltgeschehens heftig drehte, wenn auch am Ende seiner Ära der Staat Dänemark der große Mitverlierer war und (1813) Bankrott anmelden musste, wenn auch Wirtschaft und Wohlstand auf Talfahrt gingen, so lagen vor der neuen Zeit des neunzehnten Jahrhunderts trotz Sturmflut, Krieg und Pest doch über fünfhundert Jahre politische Stabilität in relativer Freiheit, das heißt in erträglicher Abhängigkeit vom Landesherrn.
    An der Westküste Schleswig-Holsteins hatte es keine Leibeigenschaft gegeben wie im Osten des Landes. Einer der Gründe lag im Selbstbehauptungswillen der Bauern, die ihre Eigenständigkeit in der verkehrsungünstigen Marsch besser bewahren konnten. Ihren Freiheitswillen brachten sie mit dem Spruch »Lewer duad üs Slaav« auf den Punkt. Ein weiterer Grund lag im praktisch-vernünftigen Toleranzdenken der regierenden Fürsten, die nur drei wesentliche Anliegen nicht aus den Augen verloren: Steuern und Finanzen, Justiz und Verwaltung, Krieg und Frieden. So florierten Handel und Wandel, so schuf die Wirtschaft den Wohlstand, den die Kunst zu ihrer Entfaltung braucht.
    Freiheit und Selbstbehauptungswille haben den Grund gelegt, und darum ist es kein Zufall, dass Schleswig-Holsteins große Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft an der Westküste geboren wurden: die Dichter Friedrich Hebbel 1813 in Wesselburen und Klaus Groth 1819 in Heide, der Historiker und erste deutsche Nobelpreisträger für Literatur Theodor Mommsen 1817 in Garding, der Begründer der Soziologie Ferdinand Tönnies 1855 in Oldenswort. (Heinrich und Thomas Mann aus Lübeck bilden die Ausnahme; aber ihr Herkommen hat ebenfalls zu tun mit jahrhundertelang entwickelter politischer
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