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Du Durchschaust Mich Nicht

Du Durchschaust Mich Nicht

Titel: Du Durchschaust Mich Nicht
Autoren: Farid
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verschlossene Handfläche zeigte nach unten. Wie in Zeitlupe drehte er die Hand noch einmal ein Stück zurück, so dass ich den Rand der Münze in seiner Hand schimmern sah. Die Münze war also immer noch da, wurde von dem Mittelfinger gehalten. Jetzt bewegte Großvater die Hand wieder zurück, zog den Haltefinger heraus und schloss die Hand fest. Ich starrte auf seine geballte Faust und wartete. Die Spannung stieg. Langsam drehte er die Hand erneut, wie in Zeitlupe, bis die Handfläche wieder nach oben zeigte. Er öffnete seine Finger mit einer magischen Geste: Die Hand war leer.
    Unglaublich! Das konnte nur Zauberei sein, denn ich hatte es selbst genau gesehen, die Münze hatte sich die ganze Zeit in der Hand befunden; Großvater hatte die Hand lediglich geschlossen und ein paarmal gedreht – und jetzt war die Münze verschwunden! Ich hatte keine Erklärung dafür. Sie hatte sich in Luft aufgelöst.
    Mein Großvater sah mein verdutztes Gesicht und begann zu lachen. Jetzt musste auch ich lachen, vor Staunen und weil Großvater lachte und weil es nach der ganzen Spannung guttat, zu lachen. So einen Spaß hatten wir noch nie zusammen gehabt. Es war der erste magische Moment, den ich bewusst erlebt habe. Und es war auch ein magischer Moment in der Beziehung zu meinem persischen Großvater.
    Erst Jahre später habe ich mich gefragt, wie der alte Mann es geschafft hatte, die Münze verschwinden zu lassen. Leider konnte ich ihn nicht mehr fragen. Entweder hatte er sie heimlich und geschickt in seinen Schoß fallen lassen – ein klassischer und einfacher Trick, der jedoch eines gewissen Geschicks und vor allem einer souveränen Ablenkungskunst bedarf. Oder er benutzte eine komplizierte Methode, indem er die Münze mit einem hauchdünnen Faden auf den Handrücken zog, so dass sie für mich nicht mehr in der Hand zu sehen war. Dies wäre allerdings schon profimäßiges Zaubern gewesen. Profizauberer war Großvater aber sicher nicht, vielmehr ist es in vielen orientalischen Ländern üblich, dass sich die Männer die Freizeit mit Kartenspielen oder mit Tricks vertreiben, die sie sich gegenseitig zeigen. Während unseres Aufenthalts in Teheran zauberte mein Großvater noch einige Male für mich, und ich schaute immer völlig gefesselt und begeistert zu.
    Zurück in Deutschland dachte ich noch oft an Großvater und seine Zauberkunststücke und entdeckte, dass es viele andere große Meister auf diesem Gebiet gab. Nachdem ich in der Schule lesen gelernt hatte, lieh ich mir aus der Bücherei in Hagen nach und nach sämtliche Bücher rund ums Zaubern und die Welt der Magie aus, sogar einige, die für Erwachsene geschrieben waren, und zur Verwunderung meiner Mutter später auch englische Bücher. Meine Mutter war doppelt überrascht: Sollte ich plötzlich zu einer Leseratte mutieren? Wollte ich mir selbständig eine neue Sprache beibringen? Aber die Erwachsenen unterschätzen es, wie viel Englisch man allein durch Songtexte lernen kann.
    Ich schaute mir damals alle Zaubershows im Fernsehen an, vor allem David Copperfield faszinierte mich. Von seiner berühmten Illusion, bei der er die Freiheitsstatue hatte verschwinden lassen, sprachen die Leute überall. Und dann schenkte mir meine Tante doch tatsächlich eine Eintrittskarte für eine Live-Show von David Copperfield in der Dortmunder Westfalenhalle. Das war total aufregend für mich: Ich hatte die Chance,
den
großen Magier aus den USA live zu sehen. Klar, dass ich ihm zumindest die Hand schütteln wollte.
    An besagtem Tag saß ich mit meiner Tante am Mittelgang in der großen Veranstaltungshalle und versuchte, jede kleine Bewegung meines damaligen Idols mitzuverfolgen. Ich war begeistert davon, wie er seine Illusionen in Geschichten einbettete, diese Art von Magie war so viel mehr als ein bloßer Kartenzaubertrick. Plötzlich geschah etwas besonders Spektakuläres: Copperfield, eben noch auf der Bühne, hatte sich innerhalb einer Sekunde in Luft aufgelöst. Im nächsten Moment tauchte er mitten im Publikum wieder auf, ganz in meiner Nähe. Wie hatte er das nur geschafft? Geistesgegenwärtig streckte ich meinen Arm aus, als er an uns vorbei den Gang entlang zur Bühne zurücklief – und tatsächlich, er drückte meine Hand! Yep! Der Handschlag hatte schon mal geklappt.
    Am Ende der Show ging ich zu einem Herrn wenige Plätze vor mir, von dem ich mir ein Autogramm auf mein Programmheft geben ließ, das ich heute noch besitze. Es war Copperfields Vater, den außer mir keiner zu
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