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Dreimond - Das verlorene Rudel

Dreimond - Das verlorene Rudel

Titel: Dreimond - Das verlorene Rudel
Autoren: Viola L. Gabriel
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denken! Nicht nach unten sehen! Schau nur auf ihn: den einzigen, den wichtigsten, den letzten Apfel des Baumes!
    Hinter der Frucht verbarg sich ein Geheimnis.
    Langsam, ganz langsam kam sie ihr näher. Leider reichte die Leiter nicht ganz heran, und nach kurzem Zögern zog sich Fiona auf jenen Ast, an dessen äußerstem Zweig verheißungsvoll sein Ein und Alles glänzte. Die Sache war zu wichtig, um jetzt aufzugeben.
    Erleichtert atmete Fiona aus, weil der Ast ihrem Gewicht standhielt. Es hatte eben auch seine Vorteile, klein und dünn zu sein. So rutschte sie weiter nach vorn, Moosstaub an ihrem weißen Kleid, und war dem Ziel zum Greifen nah, als der Herbstwind urplötzlich auffrischte. Jetzt erwachte der alte Baum zum Leben, wand sich zuckend, um mit ganzer Kraft die Diebin seines letzten Schatzes abzuwerfen. Fiona klammerte sich an den Ast und kämpfte gegen den Schwindel an, als der Windstoß abflachte. Sie hatte ihr Gleichgewicht gerade wiedergefunden, als ein Ächzen den Ast durchfuhr.
    Freier Fall.
    Zwei fliegende Sekunden.
     
    *
     
    Was für ein Windstoß!
    Unbehaglich vergrub sich Nanna tiefer in ihren roten Wollmantel. Es hatte nichts Gutes zu bedeuten, wenn die Winde am Tag vor dem Vollmond so friedlos, so ruhelos sausten. Etwas lag in der Luft, etwas Sonderbares, das spürte sie in jedem ihrer alten Knochen.
    Wehmütig blickte sie sich um. Die Strahlen der Abendsonne tauchten ihr kleines, von wilden Kräutern umschlossenes Holzhaus, das sich zwischen den großen Fachwerkhäusern des Dorfes versteckte, in ein tiefes Rot. Zu gern säße sie drinnen in ihrem Schaukelstuhl. Warm und wohlbehütet. Vielleicht mit dem ein oder anderen Kümmelkeks .
    Es half nichts. Nur bei Vollmondlicht gepflückt entfaltete der Gnadenwurz, der sich tief im Wald verbarg, jene heilsame Wirkung, die Wunder bei Blutungen und Entzündungen tat. Ein hilfreiches Kraut, von dem eine Kräuterfrau und Heilerin wie Nanna stets genug im Haus haben sollte, und leider, leider war ihr Vorrat beinahe aufgebraucht. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und endlich aufzubrechen.
    Wie zum Spott blies ihr der kalte Herbstwind ins Gesicht, als sie entlang der schmalen Straße ging, die aus dem Dorf hoch zum Wald führte.
    Der Name des Hundertseelenörtchens, in dem sie von Geburt an lebte, war Liebstein. Nicht sehr passend, denn lieblich waren sie nun wirklich nicht, die krummen und grotesken Felsen, die die Umgebung prägten und über, neben und unter den Fachwerkhäusern emporragten. Sie mochte diese grauen Riesen, die so gar nicht zu den streng säuberlich gefegten Straßen des Örtchens passten, und trotzdem nicht daran dachten, den Menschen Platz zu machen, die ihre Häuser wohl oder übel an die alten Steine lehnten und ihre Wege um die Felsen winden mussten.
    Der Herbstwind frischte abermals auf, rüttelte an den Fensterläden und riss einen Blumentopf von einer Fensterbank, der krachend in tausend Stücke zerbrach. Ein schlechtes Vorzeichen?
    Lennart, der Tischler, saß, von alldem unbeeindruckt, auf der Treppe zu seiner Werkstatt und rauchte eine Zigarre. Wortlos nickte er Nanna zu, als sie an ihm vorüberging. Ein dünnes schwarzes Kätzchen wand sich um den Kastanienbaum, der seit jeher vor der Dorfschenke wuchs. Bald öffnete sich ihr die nächste Gasse, in der Karl Zwieker, der Trunkenbold, unruhig auf und ab schlurfte. Offensichtlich konnte er es kaum erwarten, bis die Wirtsleute ihm Einlass gewährten. Eilig bog Nanna zum Dorfplatz ab.
    Am Brunnen, der sich schief an einen mannshohen Felsen schmiegte, hatte sich eine Gruppe junger Leute um Emerald, den Sohn des Schweinehirten, versammelt, den Nanna sofort an seiner schallend lauten Stimme erkannte. Der Junge gab mit vollem Körpereinsatz eine seiner Geschichten zum Besten. Sarah, die am Brunnen lehnte, schüttelte ungläubig den Kopf und fiel ihm lachend ins Wort. Sofort brachte Emerald sie zum Schweigen, indem er einen Satz auf sie zumachte, sie beherzt um die Taille packte und mit ihr, wie beim Tanz um den Maibaum, einmal um den Brunnen wirbelte, wobei seine Freunde ihn lauthals anspornten.
    Erst, als das Paar zum Stehen gekommen war – das Mädchen lachte und blickte mit rotem Kopf zu Boden – fiel Emeralds Blick auf Nanna.
    »Na, Alte«, rief er ihr grinsend zu. »Wollen wir auch ’ne Runde drehen? Ist schon ’ne ganze Weile her, dass dich einer aufgefordert hat, wie?«
    »Die will nicht mit dir tanzen, Emerald, die gibt sich nur mit
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