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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens
Autoren: Stefan Zweig
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hat einmal grimmig eben um dieser Ablenkungsmanöver willen alle Autobiographien ironisiert. »Der bekannte alle sieben Todsünden und verheimlichte, daß er an der linken Hand nur vier Finger habe; jener erzählt und beschreibt alle Leberflecken und Muttermälchen seines Rückens, allein daß ein falsches Zeugnis sein Gewissen drückt, verschweigt er wie das Grab. Wenn ich so alle miteinander vergleiche mit ihrer Aufrichtigkeit, die sie für kristallklar halten, so frage ich mich, gibt es einen aufrichtigen Menschen, und kann es ihn geben?«
    Tatsächlich, absolute Wahrhaftigkeit von einem Menschen in seiner Selbstdarstellung (und überhaupt) zu verlangen, wäre so unsinnig wie eine absolute Gerechtigkeit, Freiheit und Vollendetheit innerhalb des irdischen Weltraums. Der leidenschaftlichste Vorsatz, der entschlossenste Wille, tatsachengetreu zu bleiben, wird ja von vornherein schon unmöglich durch die unleugbare Tatsache, daß wir überhaupt kein verläßliches Organ der Wahrheit besitzen, daß wir schon vor dem Einsetzen unserer Selbsterzählung von unserer Erinnerung bereits um die wirklichen Erlebnisbilder betrogen sind. Denn unser Gedächtnis ist keineswegs eine bürokratisch wohlgeordnete Registratur, wo in festgelegter Schrift, historisch verläßlich und unabänderlich, Akt an Akt, alle Tatsachen unseres Lebens dokumentarisch hinterlegt sind; was wir Gedächtnis nennen, ist eingebaut in die Bahn unseres Bluts und von seinen Wellen überströmt, ein lebendiges Organ, allen Wandlungen und Verwandlungen unterworfen und durchaus kein Gefrierschrank, kein stabiler Konservierungs-Apparat, in dem jedes einstige Gefühl sein natürliches Wesen, seinen urtümlichen Duft, seine historisch gewesene Form behält. In diesem Fließenden und Durchströmten, das wir eilfertig in einen Namen fassen und Gedächtnis nennen, verschieben sich die Ereignisse wie Kiesel am Grunde eines Bachs, sie schleifen sich eins am andern ab bis zur Unkenntlichkeit. Sie passen sich an, sie ordnen sich um, sie nehmen in geheimnisvoller Mimikry Form und Farbe unseres Wunschwillens an. Nichts oder fast gar nichts bleibt unentstellt erhalten in diesem transformatorischen Element; jeder spätere Eindruck verschattet den früheren, jede Neu-Erinnerung lügt die ursprüngliche bis zur Unkenntlichkeit und oft Gegenteiligkeit um. Stendhal hat als erster diese Unredlichkeit des Gedächtnisses und die eigene Unfähigkeit zur absoluten historischen Treue einbekannt; sein Geständnis, daß er nicht mehr unterscheiden könne, ob das Bild, das er als »Übergang über den Großen Sankt Bernhard« in sich finde, wirklich Erinnerung an die selbsterlebte Situation sei oder Erinnerung bloß an eine später gesehene Kupferstich-Darstellung dieser Situation, darf als klassisches Beispiel gelten. Und Marcel Proust, sein Geisterbe, führt diese Umstimmungsfähigkeit des Gedächtnisses noch schlagender an dem Exempel durch, wie der Knabe die Schauspielerin Berma in einer ihrerberühmtesten Rollen erlebt. Noch ehe er sie gesehen hat, baut er sich aus der Phantasie ein Vorgefühl, dieses Vorgefühl löst sich vollkommen und verschmilzt in dem unmittelbaren Sinneseindruck; dieser Eindruck wird wiederum getrübt durch die Meinung seines Nachbars, am nächsten Tage abermals verwischt und entstellt durch die Kritik der Zeitung; und als er Jahre später die gleiche Künstlerin in derselben Rolle sieht, er ein anderer und sie eine andere seitdem, vermag schließlich seine Erinnerung nicht mehr festzustellen, was eigentlich der ursprüngliche »wahre« Eindruck gewesen. Das mag als Symbol gelten für die Unverläßlichkeit jeder Erinnerung: das Gedächtnis, dieser scheinbar unerschütterliche Pegel aller Wahrhaftigkeit, ist selbst schon Feind der Wahrheit, denn ehe ein Mensch sein Leben zu schildern anheben kann, war in ihm ein Organ bereits produzierend statt reproduzierend tätig, das Gedächtnis hat unaufgefordert selbst schon alle dichterischen Funktionen geübt, so da sind: Auslese des Wesentlichen, Verstärkung und Verschattung, organische Gruppierung. Dank dieser schöpferischen Phantasiekraft des Gedächtnisses wird also unwillkürlich jeder Darsteller eigentlich Dichter seines Lebens: dies hat der weiseste Mensch unserer neuen Welt gewußt, Goethe, und der Titel seiner Autobiographie mit dem heroischen Titel »Dichtung und Wahrheit« gilt für jede Selbstkonfession.
    Kann derart keiner »die« Wahrheit, die absolute seines eigenen Daseins aussagen, und muß jeder
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