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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens
Autoren: Stefan Zweig
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hatder Künstler mehr Not, wahrhaftig zu gestalten, als sein eigenes Ich.
    Was aber drängt dennoch von Geschlecht zu Geschlecht immer wieder neue Versucher zu dieser vollendet kaum lösbaren Aufgabe? Ein elementarer Antrieb zweifellos und tatsächlich dem Menschen zwanghaft zugeteilt: das eingeborene Verlangen nach Selbstverewigung. In Fließendes gestellt, von Vergängnis umschattet, zu Wandlung und Verwandlung bestimmt, fortgerissen von der unaufhaltsam strömenden Zeit, ein Molekül innerhalb von Milliarden, sucht jeder unwillkürlich (dank der Intuition der Unsterblichkeit) sein Einmal und Niemehrwieder in irgendeiner dauernden, ihn überdauernden Spur zu erhalten. Zeugen und Sichbezeugen, das meint im tiefsten Grunde eine und die gleiche urtümliche Funktion, ein und dasselbe identische Bestreben, wenigstens eine flüchtige Kerbe im beharrlich weiterwachsenden Stamme der Menschheit zu hinterlassen. Jede Selbstdarstellung bedeutet darum nur die intensivste Form eines solchen Sich-bezeugen-Wollens, und ihre ersten Versuche entraten noch der Kunstform des Bildes, der Hilfe der Schrift; Steinblöcke über einem Grab geschichtet, Tafeln, die in ungelenken Keilen verschollene Taten rühmen, geritzte Holzrinden – in dieser quadernen Sprache redet die erste Selbstdarstellung einzelner Menschen zu uns durch den hohlen Raum von Jahrtausenden. Unerforschlich sind längst diese Taten geworden, unverständlich die Sprache jenes zerstäubten Geschlechts: aber unverkennbar spricht aus ihnen der Impuls, sich zu gestalten, zu erhalten und über den eigenen Atemzug eine Spur des Einen und Einzigen, der man gewesen, lebendigen Geschlechtern zu übermitteln. Dieser unbewußte, dumpfe Wille zur Selbstverewigung ist also der elementare Anlaß und Anbeginn jeder Selbstdarstellung.
    Erst später, tausend und abermals Hunderte von Jahren später in einer bewußteren und wissenderen Menschheit gliedert ein zweiter Wille dem noch nackten und dumpfen Selbstbezeugungstriebe sich zu, das individuale Verlangen, sich als ein Ich zu erkennen, sich zu deuten um des Selbstwissens willen: die Selbstschau. Wenn ein Mensch, wie Augustinus so wundervoll sagt, »sich selbst zur Frage wird« und eine Antwort, die ihm und nur ihm allein gehörige Antwort sucht, wird er, um ihn deutlicher, übersichtlicher zu erkennen, denWeg seines Lebens wie eine Landkarte vor sich entrollen. Nicht den andern wird er sich erklären wollen, sondern zunächst sich selbst; hier beginnt eine Wegscheide (heute noch in jeder Selbstbiographie erkenntlich) zwischen Darstellung des Lebens oder des Erlebens, der Veranschaulichung für andere oder der Selbstveranschaulichung, der objektiv äußerlichen oder der subjektiv innerlichen Autobiographie – Mitteilung oder Selbstmitteilung. Die eine Gruppe tendiert immer der Offenkundlichkeit zu, und die Beichte wird ihre eigentliche Formel, Beichte vor der Gemeinde oder Beichte im Buche; die andere ist monologisch gedacht und genügt sich meist im Tagebuch. Nur die wahrhaft komplexen Naturen wie Goethe, Stendhal, Tolstoi haben hier eine vollendete Synthese versucht und in beiden Formen sich verewigt.
    Selbstschau aber, noch ist sie ein bloß vorbereitender, ein noch unbedenklicher Schritt: jede Wahrhaftigkeit hat es noch leicht, wahr zu bleiben, solange sie sich selber gehört. Erst mit ihrer Übermittlung beginnt die eigentliche Not und Qual des Künstlers, erst dann ist Heroismus der Aufrichtigkeit von jedem Selbstdarsteller gefordert. Denn gleich urtümlich, wie jener kommunikative Zwang uns drängt, das Einmalige unserer Person brüderlich allen mitzuteilen, waltet im Menschen ein Gegentrieb, der ebenso elementare Wille zur Selbstbewahrung, zur Selbstverschweigung: er spricht zu uns durch die Scham. Genau wie die Frau körperlich zur Hingabe durch Willen des Blutes strebt und durch Gegenwillen des wachen Gefühls sich selbst bewahren will, so ringt im Geistigen jener Beichtwille, uns der Welt anzuvertrauen, mit der Seelenscham, die uns rät, unser Geheimstes zu verschweigen. Denn der Eitelste selbst (und gerade er) empfindet sich nicht als vollkommen, nicht als dermaßen vollendet, wie er vor den andern erscheinen möchte: darum begehrt er, seine häßlichen Heimlichkeiten, seine Unzulänglichkeiten und Kleinlichkeiten mit sich sterben zu lassen, indes er gleichzeitig will, daß sein Bildnis unter den Menschen lebt. Scham also, sie ist die ewige Widersacherin jeder wahrhaften Selbstbiographie, denn sie sucht schmeichlerisch zu
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